Lvveires Zult-Dekt 1SS3.
20. Stück.
Lrscbeinl
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinand Nvenarius.
Iöeskellpreis:
vierteljährlich 2t/z Mark. !
Änsckaulicbe Lpracbe.
Scblussauksatz.
sehr allgemeiner und abstrakter Begrifse zu
bedienen, gilt nicht selten als das Zeichen
eines „gelehrten", „wissenschaftlichen" Geistes.
Das ist indessen nicht richtig. Gewiß, Worte
wie Sittlichkeit, Verhältnis, Substanz, Qualität, Mannig-
faltigkeit, Einheit, Jdentität usw. werden weder in der
dichterischen noch in der alltäglichen Sprache vorkommen;
sie werden weder von Kindern noch von Ungebildeten ge-
braucht werden. Das liegt aber daran, daß solche Be-
grifse, wie überhaupt die höchsten und letzten Abstraktionen,
nur beim theoretischen und wissenschaftlichen Denken ge-
wonnen werden. Aber es giebt andere, auch sehr all-
gemeine Begrisfe, die grade von Kindern und Ungebildeten
mit Vorliebe benutzt werden; so etwa die Begrifse „schön"
oder „gut". Wo dem feiner und schärfer Empfindenden
hundert verschiedene Ausdrücke zu Gebote stehen, gebraucht
der unentwickelte Geist des Kindes immer wieder dasselbe
nichtssagende Wort: die Mutter ist gut, die Puppe ist
gut, der Zucker ist gut. Der allgemeinste Ausdruck paßt
eben in irgend einer Weise aus alle Fälle. Und genau
aus demselben Grunde verwenden Ungeschulte, geistig
Stumpfe und denkfaule Personen immer recht allgemeine
und abstrakte Begrifse. Nichts langweiliger, als so ein
verwaschener farbloser Stil, wo statt treffender, die Sache
scharf kennzeichnender Worte überall vage, gleichzeitig nichts-
und zuviel-sagende abstrakte Ausdrücke stehen. Man beachte
nur den Wörtervorrat sogenannter Gebildeter bei ästhetischen
Urteilen. Es giebt nicht wenige, die in einer Bilder-
ausstellung mit den beiden Worten „prachtvoll" oder
„scheußlich" bequem ausreichen oder die Modeworte wie
„6n Us 8iecle" so lange zu Tode hetzen, bis sie auch
den letzten Rest charakteristischen Gehalts eingebüßt haben
und so allgemein geworden sind, wie das weiteste Abstraktum.
Es giebt einen angemessenen und einen falschen Ge-
brauch abstrakter Begriffe. Es ist ein Anderes, ob der
alte Kant in glänzender Trockenheit ein Gedankengebäude
errichtet und in seinen Begrifsen die höchsten Höhen der
Abstraktion erklimmt, ein Anderes, ob ein talentloser
Schriftsteller sich in allgemeinen und farblosen Wendungen
ergeht, weil er die charakteristischen Unterschiede in den
Dingen blöde übersieht. — Ein umfassender Geist, der
nicht am Einzclnen klebt, sondern das Gemeinsame in der
verwirrenden Fülle vielgestaltiger Erscheinungen zu erfassen
strebt, der von den Unterschieden bewußt abstrahirt, nicht
weil er diese Unterschiede übersieht, sondern weil er von
ihnen zur Gewinnung des Allgemeinen absehen will, der
wird in sinnvoller und sruchtbarer Weise den unentbehr-
lichen wissenschaftlichen Apparat sehr abstrakter Begrisse zu
handhaben wissen. Wer aber Konkretes sagen will und
sich doch dazu abstrakter Worte bedient, der begeht die
größte Sünde gegen den heiligen Geist des Stils.
Nur aus dem falschen Gebrauch ist es erklärlich,
daß abstrakt vielfach die Bedeutung gewinnen kann von
„verschwommen", „unklar", „undeutlich", „unbestimmt".
Bei richtigem Gebrauch ist höchste Abstraktion grade mit
denkbar größter Bestimmtheit und Klarheit verbunden?
* Die Scholastiker stellten „klar" und „verworren" neben-
einander, ja gebrauchten diese Ausdrücke als gleichbedeutend.
Die abstrakte Erkenntnis war ihnen die allein „deutliche", die
anschauliche galt sür eine „verworrene" abstrakte.
20. Stück.
Lrscbeinl
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinand Nvenarius.
Iöeskellpreis:
vierteljährlich 2t/z Mark. !
Änsckaulicbe Lpracbe.
Scblussauksatz.
sehr allgemeiner und abstrakter Begrifse zu
bedienen, gilt nicht selten als das Zeichen
eines „gelehrten", „wissenschaftlichen" Geistes.
Das ist indessen nicht richtig. Gewiß, Worte
wie Sittlichkeit, Verhältnis, Substanz, Qualität, Mannig-
faltigkeit, Einheit, Jdentität usw. werden weder in der
dichterischen noch in der alltäglichen Sprache vorkommen;
sie werden weder von Kindern noch von Ungebildeten ge-
braucht werden. Das liegt aber daran, daß solche Be-
grifse, wie überhaupt die höchsten und letzten Abstraktionen,
nur beim theoretischen und wissenschaftlichen Denken ge-
wonnen werden. Aber es giebt andere, auch sehr all-
gemeine Begrisfe, die grade von Kindern und Ungebildeten
mit Vorliebe benutzt werden; so etwa die Begrifse „schön"
oder „gut". Wo dem feiner und schärfer Empfindenden
hundert verschiedene Ausdrücke zu Gebote stehen, gebraucht
der unentwickelte Geist des Kindes immer wieder dasselbe
nichtssagende Wort: die Mutter ist gut, die Puppe ist
gut, der Zucker ist gut. Der allgemeinste Ausdruck paßt
eben in irgend einer Weise aus alle Fälle. Und genau
aus demselben Grunde verwenden Ungeschulte, geistig
Stumpfe und denkfaule Personen immer recht allgemeine
und abstrakte Begrifse. Nichts langweiliger, als so ein
verwaschener farbloser Stil, wo statt treffender, die Sache
scharf kennzeichnender Worte überall vage, gleichzeitig nichts-
und zuviel-sagende abstrakte Ausdrücke stehen. Man beachte
nur den Wörtervorrat sogenannter Gebildeter bei ästhetischen
Urteilen. Es giebt nicht wenige, die in einer Bilder-
ausstellung mit den beiden Worten „prachtvoll" oder
„scheußlich" bequem ausreichen oder die Modeworte wie
„6n Us 8iecle" so lange zu Tode hetzen, bis sie auch
den letzten Rest charakteristischen Gehalts eingebüßt haben
und so allgemein geworden sind, wie das weiteste Abstraktum.
Es giebt einen angemessenen und einen falschen Ge-
brauch abstrakter Begriffe. Es ist ein Anderes, ob der
alte Kant in glänzender Trockenheit ein Gedankengebäude
errichtet und in seinen Begrifsen die höchsten Höhen der
Abstraktion erklimmt, ein Anderes, ob ein talentloser
Schriftsteller sich in allgemeinen und farblosen Wendungen
ergeht, weil er die charakteristischen Unterschiede in den
Dingen blöde übersieht. — Ein umfassender Geist, der
nicht am Einzclnen klebt, sondern das Gemeinsame in der
verwirrenden Fülle vielgestaltiger Erscheinungen zu erfassen
strebt, der von den Unterschieden bewußt abstrahirt, nicht
weil er diese Unterschiede übersieht, sondern weil er von
ihnen zur Gewinnung des Allgemeinen absehen will, der
wird in sinnvoller und sruchtbarer Weise den unentbehr-
lichen wissenschaftlichen Apparat sehr abstrakter Begrisse zu
handhaben wissen. Wer aber Konkretes sagen will und
sich doch dazu abstrakter Worte bedient, der begeht die
größte Sünde gegen den heiligen Geist des Stils.
Nur aus dem falschen Gebrauch ist es erklärlich,
daß abstrakt vielfach die Bedeutung gewinnen kann von
„verschwommen", „unklar", „undeutlich", „unbestimmt".
Bei richtigem Gebrauch ist höchste Abstraktion grade mit
denkbar größter Bestimmtheit und Klarheit verbunden?
* Die Scholastiker stellten „klar" und „verworren" neben-
einander, ja gebrauchten diese Ausdrücke als gleichbedeutend.
Die abstrakte Erkenntnis war ihnen die allein „deutliche", die
anschauliche galt sür eine „verworrene" abstrakte.