Lrstes September-Dekt tS93.
23. Stück.
Lrscbctnt
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinand Nvenarius.
Kcsrcllprcls:
vierteljährlich 2t/z Mark.
S. Zabrg.
^ur „Wberwiudung" Magners.
ir sind alle darüber einig: Wagner war der
Reformator unsrer Oper. Und dann: wir
haben „Wagneropern" in verhältnismaßig
großer Anzahl. Dennoch: sie besriedigen
uns nicht. Woher kommt das?
Fassen wir einmal die Opern, die sich im Wagnerschen
Stile bewegen und doch nicht befriedigen, schärfer ins Auge.
Sie zeigen alle Eigentümlichkeiten der Wagnerschen
Kunstweise: die Gesangführung in ihnen folgt konsequent
den Deklamationsgesetzen der Sprache, die Art der Melodie-
führung, der Harmonisirung, Wagners modulatorische und
enharmonische UnAebundenheit, sein schilderndes Orchester,
das Leitmotivwesln — kurz alle Stilprinzipien dieses
Meisters finden wir hier angewandt. Dennoch kann man
keine rechte Freude an ihnen haben, selbst an den wenigen
hierhergehörigen Opern nicht, in denen daneben auch hier
und da wohl Eigenes auftaucht.
Woran liegt das? Liegt es an Wagners für das
Musikdrama aufgestellten Grundsätzen, liegt es an seinem
„GesetzgeberwerkS" selbst? Das würde schon dadnrch
widerlegt, daß wir bei Wagners eigenen Tonschöpfungen,
die doch seiner Theorie entsprechen, von sener Unlust nichts
empfinden, die uns seine Nachfolger so oft bereiten.
Also muß der Niedergang unsrer musikalisch-dramatischen
Produktion, soweit sie unter dem Zeichen Wagners steht,
an nnsern Komponisten selbst liegen.
Jm letzten Grunde ist sedes Kunstwerk die Übertragung
einer Persönlichkeit mit ihrer besonderen Empfindungsweise
ans den Genießenden. Einer Persönlichkeit. — Von zwei
Künstlern, die beide mit gleichem technischen Können, mit
gleich kräftigen Kunstmitteln arbeiten, wird also derjenige
stärker auf uns einwirken, der die stärkere Eigenpersönlichkeit
hat. Die Nachfolger Wagners haben sich bis jetzt als
Nachahmer gezeigt: die starke Eigenpersönlichkeit ihres
Meisters fehlte ihnen, sie standen unter dem Einfluß der
seinen, standen unter dem Einsluß des Künstlers Wagner
selbst, nicht nur unter dem der von ihm dargelegten
Kunstgesetze. Sie sind von Wagner nicht nur angeregt,
nicht nur auf ihren Weg gewiesen, sie sind von ihm
„suggerirt". So kommt es, daß wir bei ihnen „Kunst
zweiter Hand" empfinden und das unmittelbar vom
Menschen zum Menschen sprechende eigene Jch vermissen.
Oft erhalten wir von diesen Nachfolgern Wagners
nicht viel mehr, als ein Phantasiren über Wagnersche
Motive. Man blättere, um ein Beispiel dafür herans-
zugreifen, den Klavierauszug der Cyrill Kistlerschen Oper
„Kunihild" durch, der man gegenwärtig in Würzburg
wieder aufzuhelfen versucht. Auch Kienzl, Grammann,
Weingartner könnten bestätigen, was wir oben gesagt haben.
Schon rein stosslich macht sich die „Suggestion"
Wagners bemerklich. Man Lehandelt Vorwürfe je lieber,
je mehr sie den von Wagner behandelten verwandt sind.
Die Gestaltung der Situationen, Begebenheiten, Charaktere
in den nachwagnerischen Musikdramen sieht nicht selten
beinahe aus, wie ein Permutiren mit bekannten Wagnerschen
Typen. Nun, immerhin mag man bci Sagenstosfen bleiben,
wie Wagner selbst sie bevorzugte und als die geeignetsten
empsohlen hat. Den Stoff mit eigenen Augen zu sehen,
mit eigener Hand ihn selbstschöpferisch zu gestalten, darauf
kommt es ja an. Und auch wir sind der Ansicht, daß
unsrer Zeit fernab liegende romantische Stoffe, vorzüglich
Sagenstoffe mit packenden großen Konflikten, starken Leiden-
— 3S3
23. Stück.
Lrscbctnt
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinand Nvenarius.
Kcsrcllprcls:
vierteljährlich 2t/z Mark.
S. Zabrg.
^ur „Wberwiudung" Magners.
ir sind alle darüber einig: Wagner war der
Reformator unsrer Oper. Und dann: wir
haben „Wagneropern" in verhältnismaßig
großer Anzahl. Dennoch: sie besriedigen
uns nicht. Woher kommt das?
Fassen wir einmal die Opern, die sich im Wagnerschen
Stile bewegen und doch nicht befriedigen, schärfer ins Auge.
Sie zeigen alle Eigentümlichkeiten der Wagnerschen
Kunstweise: die Gesangführung in ihnen folgt konsequent
den Deklamationsgesetzen der Sprache, die Art der Melodie-
führung, der Harmonisirung, Wagners modulatorische und
enharmonische UnAebundenheit, sein schilderndes Orchester,
das Leitmotivwesln — kurz alle Stilprinzipien dieses
Meisters finden wir hier angewandt. Dennoch kann man
keine rechte Freude an ihnen haben, selbst an den wenigen
hierhergehörigen Opern nicht, in denen daneben auch hier
und da wohl Eigenes auftaucht.
Woran liegt das? Liegt es an Wagners für das
Musikdrama aufgestellten Grundsätzen, liegt es an seinem
„GesetzgeberwerkS" selbst? Das würde schon dadnrch
widerlegt, daß wir bei Wagners eigenen Tonschöpfungen,
die doch seiner Theorie entsprechen, von sener Unlust nichts
empfinden, die uns seine Nachfolger so oft bereiten.
Also muß der Niedergang unsrer musikalisch-dramatischen
Produktion, soweit sie unter dem Zeichen Wagners steht,
an nnsern Komponisten selbst liegen.
Jm letzten Grunde ist sedes Kunstwerk die Übertragung
einer Persönlichkeit mit ihrer besonderen Empfindungsweise
ans den Genießenden. Einer Persönlichkeit. — Von zwei
Künstlern, die beide mit gleichem technischen Können, mit
gleich kräftigen Kunstmitteln arbeiten, wird also derjenige
stärker auf uns einwirken, der die stärkere Eigenpersönlichkeit
hat. Die Nachfolger Wagners haben sich bis jetzt als
Nachahmer gezeigt: die starke Eigenpersönlichkeit ihres
Meisters fehlte ihnen, sie standen unter dem Einfluß der
seinen, standen unter dem Einsluß des Künstlers Wagner
selbst, nicht nur unter dem der von ihm dargelegten
Kunstgesetze. Sie sind von Wagner nicht nur angeregt,
nicht nur auf ihren Weg gewiesen, sie sind von ihm
„suggerirt". So kommt es, daß wir bei ihnen „Kunst
zweiter Hand" empfinden und das unmittelbar vom
Menschen zum Menschen sprechende eigene Jch vermissen.
Oft erhalten wir von diesen Nachfolgern Wagners
nicht viel mehr, als ein Phantasiren über Wagnersche
Motive. Man blättere, um ein Beispiel dafür herans-
zugreifen, den Klavierauszug der Cyrill Kistlerschen Oper
„Kunihild" durch, der man gegenwärtig in Würzburg
wieder aufzuhelfen versucht. Auch Kienzl, Grammann,
Weingartner könnten bestätigen, was wir oben gesagt haben.
Schon rein stosslich macht sich die „Suggestion"
Wagners bemerklich. Man Lehandelt Vorwürfe je lieber,
je mehr sie den von Wagner behandelten verwandt sind.
Die Gestaltung der Situationen, Begebenheiten, Charaktere
in den nachwagnerischen Musikdramen sieht nicht selten
beinahe aus, wie ein Permutiren mit bekannten Wagnerschen
Typen. Nun, immerhin mag man bci Sagenstosfen bleiben,
wie Wagner selbst sie bevorzugte und als die geeignetsten
empsohlen hat. Den Stoff mit eigenen Augen zu sehen,
mit eigener Hand ihn selbstschöpferisch zu gestalten, darauf
kommt es ja an. Und auch wir sind der Ansicht, daß
unsrer Zeit fernab liegende romantische Stoffe, vorzüglich
Sagenstoffe mit packenden großen Konflikten, starken Leiden-
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