Lrstes Zuli-Ibekt t693.
19. Ltück.
Lrscbetnt
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinuud Nvenarius.
Kcstellprets:
vierteljährlich 2 t/z Mark.
6. Zabrg.
Ltnscbaullcke Lprucke.
in Jünger Pestalozzis belehrte mich einst über
den Wert der Anschaulichkeit in der Schule.
Jn der Methodik des Unterrichts, so sagte er,
sei Anschaulichkeit erstes Erfordernis. Kein
Unterricht, der nicht anschaulich erteilt werden könne und
anschaulich erteilt werden müsse.
Meine Schulzeit kam mir unwillkürlich in den Sinn.
Da sah ich sie sitzen, die armen geplagten Jungen, vor
den langen Geschichtstabellen gahnend und memorirend:
Heinrich I. 9t9 - 936, Otto I. 936— 973, Heinrich 1.
9t 9 —936, Otto I. 936 - 973 ....
Welch ein erquickendes Labsal, wenn uns damals in
dieser Wüstenei vou Namen und Zahlen und abstrakten
Notizen ein Bild vor Augen getreten wäre, ein leibhaftiges
Phantasiebild in bunteu und grellen Farben, voll Glanz
und Leben. Aber wir sahen nichts als Druckerschwärze
und Papier. Wie glücklich muß doch die Jugend sein,
der die Geschichte anschaulich beigebracht wird!
„Anschaulicher" Geschichtsunterricht also. Wie aber
soll Geschichte, z. B. die deutsche Kaisergeschichte anschaulich
getrieben werdeu? „Otto I. erfocht i. I. 933 einen
Sieg über die Ungarn auf dem Lechfelde". Was soll
mau thun, daß diese Worte nicht blos Worte bleiben?
Jch muß gestehen, mir wollt es dank meiner mangelhafteu
Bildung nicht recht glücken. Schlacht, Lechfeld, Ungarn
— Worte nichts als Worte! Daß die Ungarn weder
mit Kanonen schossen, noch Pickelhauben trugen, darüber
war ich mir allenfalls klar, aber wie sahen sie aus? Was
für Fußbekleidung, was für Waffen trugen sie? Wie
war die Art ihres Gefechts? — Alles dunkel. Wie
elend erschien mir doch mein Wortwissen, wie erstrebens-
wert eine von klaren Anschauungeu getragene sachliche
Einsicht. Aber freilich, ein solchcs Wissen führt ius Eim
zelne, ins Einzelste. Das Stoffgebiet wächst ins Ungehcure,
und die Zeit der Schule ist beschränkt. Wie weit würde
ein Lehrer wohl in der Geschichte vordringcn, wollte er
seinen Schülern wirklich anschantich machen, wie eine
Kröuuug vor sich ging, oder woran man eigentlich er-
kannte, daß eine Schlacht gewvnnen war? Und neue
B.edenken tauchten auf. Lassen sich denn mit allen ge-
schichtlichen Ereignissen Anschauungen verbinden? Wer
kann ehrlicher Weise behaupten, daß er etwas sinnlich
Greisbares vor sich sähe, wenn er das Wort „Vertrag"
oder „Frieden" hört? Jmmer verwickelter erschien mir
die Sache. Selbst für das Konkreteste der Konkreten, sür
die einzelnen Persönlichkeiten der Geschichte zerrann mir
der Begrifs Anschaulichkeit zwischen den Händen. Soll
man sich wirktich von all den Tausenden von Personen,
deren Namen man lernt, ein Bild ihres Äußer» machen?
Soll man all die Ottonen nnd Heinriche, soll man
Berengar II. und Liudolf ebensv leibhastig in historischer
Tracht vor sich sehen, wie man etwa Napoleon I. oder den
alten Fritz zu sehen gewohnt ist? Und wie, wenn kein
Bildnis uns hinterlassen ist? Hat es einen Wert, bei
jedem Namen ein selbsterzeugtes Phantasiebild austauchen
zu lassen? Kann man sagen, mau habe ein anschauliches
Bild von der historischen Persönlichkeit Ottvs des Großen
gewonneu, wenu man nicht weiß, wie seine Statur war
und wie er Bart und Haare zu tragen pslegte?
Bescheiden wandte ich mich an meinen pädagogischen
Mentor: ob es wohl leicht sei, die Priuzipien der An
schaulichkeit aus den Unterricht in der Geschichte zu über-
19. Ltück.
Lrscbetnt
am Anfang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinuud Nvenarius.
Kcstellprets:
vierteljährlich 2 t/z Mark.
6. Zabrg.
Ltnscbaullcke Lprucke.
in Jünger Pestalozzis belehrte mich einst über
den Wert der Anschaulichkeit in der Schule.
Jn der Methodik des Unterrichts, so sagte er,
sei Anschaulichkeit erstes Erfordernis. Kein
Unterricht, der nicht anschaulich erteilt werden könne und
anschaulich erteilt werden müsse.
Meine Schulzeit kam mir unwillkürlich in den Sinn.
Da sah ich sie sitzen, die armen geplagten Jungen, vor
den langen Geschichtstabellen gahnend und memorirend:
Heinrich I. 9t9 - 936, Otto I. 936— 973, Heinrich 1.
9t 9 —936, Otto I. 936 - 973 ....
Welch ein erquickendes Labsal, wenn uns damals in
dieser Wüstenei vou Namen und Zahlen und abstrakten
Notizen ein Bild vor Augen getreten wäre, ein leibhaftiges
Phantasiebild in bunteu und grellen Farben, voll Glanz
und Leben. Aber wir sahen nichts als Druckerschwärze
und Papier. Wie glücklich muß doch die Jugend sein,
der die Geschichte anschaulich beigebracht wird!
„Anschaulicher" Geschichtsunterricht also. Wie aber
soll Geschichte, z. B. die deutsche Kaisergeschichte anschaulich
getrieben werdeu? „Otto I. erfocht i. I. 933 einen
Sieg über die Ungarn auf dem Lechfelde". Was soll
mau thun, daß diese Worte nicht blos Worte bleiben?
Jch muß gestehen, mir wollt es dank meiner mangelhafteu
Bildung nicht recht glücken. Schlacht, Lechfeld, Ungarn
— Worte nichts als Worte! Daß die Ungarn weder
mit Kanonen schossen, noch Pickelhauben trugen, darüber
war ich mir allenfalls klar, aber wie sahen sie aus? Was
für Fußbekleidung, was für Waffen trugen sie? Wie
war die Art ihres Gefechts? — Alles dunkel. Wie
elend erschien mir doch mein Wortwissen, wie erstrebens-
wert eine von klaren Anschauungeu getragene sachliche
Einsicht. Aber freilich, ein solchcs Wissen führt ius Eim
zelne, ins Einzelste. Das Stoffgebiet wächst ins Ungehcure,
und die Zeit der Schule ist beschränkt. Wie weit würde
ein Lehrer wohl in der Geschichte vordringcn, wollte er
seinen Schülern wirklich anschantich machen, wie eine
Kröuuug vor sich ging, oder woran man eigentlich er-
kannte, daß eine Schlacht gewvnnen war? Und neue
B.edenken tauchten auf. Lassen sich denn mit allen ge-
schichtlichen Ereignissen Anschauungen verbinden? Wer
kann ehrlicher Weise behaupten, daß er etwas sinnlich
Greisbares vor sich sähe, wenn er das Wort „Vertrag"
oder „Frieden" hört? Jmmer verwickelter erschien mir
die Sache. Selbst für das Konkreteste der Konkreten, sür
die einzelnen Persönlichkeiten der Geschichte zerrann mir
der Begrifs Anschaulichkeit zwischen den Händen. Soll
man sich wirktich von all den Tausenden von Personen,
deren Namen man lernt, ein Bild ihres Äußer» machen?
Soll man all die Ottonen nnd Heinriche, soll man
Berengar II. und Liudolf ebensv leibhastig in historischer
Tracht vor sich sehen, wie man etwa Napoleon I. oder den
alten Fritz zu sehen gewohnt ist? Und wie, wenn kein
Bildnis uns hinterlassen ist? Hat es einen Wert, bei
jedem Namen ein selbsterzeugtes Phantasiebild austauchen
zu lassen? Kann man sagen, mau habe ein anschauliches
Bild von der historischen Persönlichkeit Ottvs des Großen
gewonneu, wenu man nicht weiß, wie seine Statur war
und wie er Bart und Haare zu tragen pslegte?
Bescheiden wandte ich mich an meinen pädagogischen
Mentor: ob es wohl leicht sei, die Priuzipien der An
schaulichkeit aus den Unterricht in der Geschichte zu über-