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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 24 (2. Septemberheft 1893)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0379

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Nundsckau.

Dicbtung.

* Scbritteu über Literatur. III.

Gründeutschland. Em Streifzug durch die jüngste
deutsche Dichtuug. Von Professor Or. Friedrich Kirchuer.
(Wien und Leipzig, Kirchner 8c Schiuidt, 5 M.)

Der Schreiber dieser Zeileu hat sich schou über mauche
kritische Schrift aus dem Kreise des jüugsten Deutschlands
geürgert. Bieten sie doch gar so oft das nämliche Bild:
Mangel au Kenntnissen, Überfülle au Sicherheitsgesühl; selsen-
seste Überzeuguug vou der eigeneu Selbständigkeit bei voll-
kommener Besangeuheit in dem Einflusse des oder der gerade
Angeschwärmten; Glauben sür die Kunst einzutreten, während
die künstlerischeu Probleme, um die sich's handelt, kaum erfaßt,
ja in ihrem Dasein wohl gar nicht geahnt sind. Es lohnt
sich uicht, solche Schriften zu besprechen: wenu den Herrn
Verfassern der Bart üppiger um die Prophetenlippen sprießt,
denken sie ja doch anders, sagt man sich, und man legt die
Zeugnisse ihrer Jugend schweigend zu dem Übrigen.

Tritt aber ein Professor aus, der sich der opsrL bereits
dutzendweise entledigt hat, so muß man seine Leistung schon
deshalb besprechen, weil nnsere Landsleute Weisheit, die vom
Katheder trüuft, gar leicht bereitwilliger aufsaugen, als solche
von unbetitelten Jrdischen. Nehmen wir in diesem Fall unser
Urteil vorweg: Kirchners Buch wiegt nm kein Quentchen
mehr, als des schlimmsten der Jüngstdeutschen, die er vernichten
will, schlimmstes, denn es hört bei ihm wie bei jenem der Maß-
stab auf — es ist wertlos ganz und gar. Schade, daß man
das sagen muß, denn Kirchner hat seine Arbeit unzweifelhaft mit
ehrlich gutem Willen vorgenommen. Und er hat sich's auch
nicht verdrießen lassen, unter den jüngstdeutschen Büchern tapser
herumzulesen. Aber was hilft das alles, wenn zn der
schwierigen Ausgabe jede innere Befähignng sehlt? ^

„Die vortiegende Schrift will keine Polemik gewvhnlicher
Art sein, welche den Gegner mit einigen Phrasen und Schlag-
wörtern abthnt, sondern ein Versuch, die modernen Dichter
vom literarhistorischen Standpunkte ans zu würdigen." So
heißt es im Vorwort. Und gerade das, was also die Schrist
nicht sein will, gerade das ist sie.

Oder handelt sich's nicht um ein „Abthun mit einigen
Phrasen und Schlagwörtern", wenn der Versasser z. B. von
der „eklen und pessimistischen Schmutzdichtung" Zolas spricht,
dem er übrigens kaum glaublicher Weise auch Daudets „Sappho"
zuschreibt, eines der tiesestsittlichen Werke der neueren Literatur.
Jst es etwas anderes, als ein solches Abthun, wenn aus die
Jnhaltsangabe der einzelnen Werke Redensarten solgen, wie:
„Was sich wohl Herr Sch. gedacht haben mag?" oder „Das
ist auch Poesie, moderne Poesie!" oder „Das ist Poesie, nicht
wahr?" oder „Wozu das? Jst das Kunst oder Natur?" oder
„Daß diese Sätze lauter utopistische Trüumereien sind, leuchtet
jedem Verständigen ein."

Der „literarhistorische Standpunkt" aber, von dem aus
die „Würdigung" stattflnden soll, ist unsindbar. Das historische
Begreisen ist ein Begreifen nach dem Werden, nach der Ent-
wicklnng. Kirchners Standpnnkt ist einfach der Ablageplatz
all der Thesen jener Metaphysik, gegen deren Herrschaft sich
zum guten Teil der Ansturm der Jüngstdeutschen eben richtet:
der Kampfrichter gehört also einer Partei an. Ästhetische
Probleme scheint es sür Kirchner kaum zu geben: er steckt
jede Frage in seinen Erinnerungsantomaten, zieht unten, und,
klapp, da ist die Lösung. „Conrad erinnert an ein Wort
Taines: »auf freiem Felde begegne ich lieber einem Schaf als
einem Löwen; aber hinter dem Gitter sehe ich lieber einen
Löwen als ein Schaf. Die Kunst ist solch ein Gitter; sie be-

seitigt den Schrecken und läßt nnr das Jnteresse übrig.« Nun,
wir halten Herrn Taines Satz sür falsch. Erstens verstehen
wir nicht, warum man einen Löwen lieber sehen soll als ein
Schaf; es kommt jedenfatts dabei anf die Stimmnng an. So-
dann hört der Schrecken bei der Kunst keineswegs auf, mag
man an psychologischen oder moralischen Schrecken denken.
Jm Gegenteil, das Drama z. B. will Schrecken und Mitleid
erregen." Es fällt Herrn Kirchner gar nicht ein, daß er eben
diesen Satz zu einem Schlusse gegen die Jüngstdentschen erst
dann zu Prümisse nehmen dürfte, wenn er ihre Einwände
dagegen widerlegt hätte. Er kennt diese Einwände -wahr-
scheinlich gar nicht; er hat sein gutes altes üsthetisches Dogma,
und von dem aus verdammt er.

Aber die abgedruckte Stelle ist in ihrer pedantischen
Ausfassung und in ihrcm Mißverständnis eines spielenden
Bonmots leider auch insosern sür das Buch bezeichnend, als
nicht nur sie bcweist, daß dem Verfasser zum Verstündnis
literarischer Leistungen das Feingefühl sehlt. Prüfen wir die
ganze Schrift durch, so kommen wir in der That allmählich
zu der Überzeugung, daß er nur ganz selten einmal über die
stoffliche Teilnahme zur eigentlichen künstlerischen, zur Teil-
nahme an der Bewegung des Stoffs durch die Persönlichkeit
der Dichter gelangt. Was sie ihre Gestalten denken, fühlen,
glauben, thun lassen, was sic beschreiben und behandeln, das
allein versteht er leidlich: die Künstlerseele hinter dem Stoff
erkennt er nur selten halbwegs klar. So kommen gelegent-
lich ganz wunderliche Mißverständnisse zu Stande. Und es
erklärt sich, wie Kirchner in ihrer literarischen Bedeutung ganz
gleichgiltige Bücher mit mehreren Seilen, manche hochwichtige
aber nur so nebenbei mit ein paar Zeilen abmachen kann.

Die gegenwärtige Literaturbewegung zeigt so viel des
Verirrten und Verworrenen, daß es uns als eine der
drängendsten Aufgaben dcr Kunstwissenschast erscheint, sie vom
wirklich „literarhistorischen" Standpnnkte aus klärend zu be-
leuchten. Aber Kirchners Arbeit trügt zu solchem Lichte um
keiner Kerze Helligkeit bei. Selbst das bescheidene Berdienst,
wenigstens den Stoff leidlich übersichtlich gemacht zu haben,
dars ihr nicht zugesprochen werden, denn es waltet in dem
Buch eine schlimme Unordnnng. Wie ein Schwimmer aus
wildem Meer wird der Prosessor von den Wogen auf- und
niedergetragen, deren Spiel er von oben herab prüsend über-
blicken will.

* volkslied und Gassenbauer. Die „Grenzboten"
klagen: „Das Volkslied ist tot, es lebe das Volkslied! Doch
ach, wie sieht dein Ersatz aus! Wenn du gleich einem schlicht
gekleideten Mädchen über grüne Wiesenflächen schrittest, so tanzt
das moderne Volkslied im srechen Röckchen der Tingeltangel-
sängerin seine Kankanweise, durch und durch Geschmacklosig-
keit und Verlogenheit. Du armes totes Volkslied konntest so
schön »von Lenz und Liebe, von seliger, goldner Zeit« singen,
nnd wenn es auch kein seiner Kunstgesang war und deine Ton-
dichter nur selten den Kontrapunkt studirt hatten, so wußtest
du doch zu erfrenen und zu ergreifen. Das moderne Volks-
lied, ein echtes Kind seiner Zeit, verschmäht die verschlungnen
Pfade der Romantik, es will den Menschen nichts zu fühlen,
zu denken und zu raten geben, sondern nur Ohren und Sinne
kitzeln. Gerades Wegs geht es anf sein Ziel los, und das
Ziel ist immer die unverhüllte Gemeinheit oder die brutale
»Aktualität«.

Das moderne Volkslied, oder sagen wir gleich: der Gassen-
hauer, greift um so schneller um sich, je blödsinniger oder zotiger
sein Text und je dürftiger seine Weise ist. Jn sentimentaler

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