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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

DOI issue:
Heft 3 (1. Novemberheft 1892)
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Gedankendichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0040

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3. Stück.

Lrscbeint

Derausgeber:

Ferdinand Nvenarlus.

KcstLllpreis:

vierteljährlich 2 1/2 Mark. H.

I Anzeigen: Z gesp.Nonp.-Aeile-O pf. -

Lrstes Oovember-Dett 1992.

-^

Gedankendicbtuug

?M^G^nß wir das Vsik dcr Dichter uud Deuker
siud, vermögeu wir oft geschickt zu oer-
bergeu: wüßte uwu's uicht, muu gloubte
es wirklich mituuter knum. Aber freilich,
nu eiuigcu Diugen verrnt sich's. Zum Beispiel dnrnu,
dnsz unsere Kritiker eiue gnuz nuszerordeutliche Hoch-
nchtung vor „Gednnkcudichtuug" habeu. Riecht ihre
seiue Nnse iu eiuem soust uoch so schwncheu Werke
ciu weuig Stoff vou dieser Art, so hnt ihr Opfer
mildeste Behnndluug zu gewärtigeu.

Kauu es eigentlich au uud für sich eiu Lob be-
deuteu, das Wort „Gednukendichter" ?

Gednukeu wirklich durchzuführen, ist uicht Snche
dcr Poesic. Augewieseu dnrauf, zu wirkeu durch die
Erregung vou Auschnuuugen und Gefühlen, die
Kraft der Phnntnsie nlso uud des Empfiudens, kann
die Kunst gernde Gednukenreiheu in losgelöster Weise,
d. h. wisseuschaftlich und beweiskrüftig, überhnupt nicht
vorführeu. Neines Deuken ist Abstrnhireu, Abstrnhireu
ist Tod der Kunst, die uur beim Koukretisireu, beim
Verkörperlichen gedeiht. Wir pflegeu Gednuken nls
solche um so höher zu schntzeu, je sachlicher, se objek-
tiver sie sind, und Schlüsse insbesoudere, je höher,
je logisch sicherer ihre Beweiskraft ist. Aber je mehr
sie dies siud, je weuiger „poetisch" werdeu sie. Uud
es wird keiuem Denker einfallen, die Gedaukeu nuch
der tiefsteu Gcdaukendichtuug — wenu sie wirklich
eine Dichtuug ist — nls wisseuschnftlich geluugeue
Beweisreiheu hinzuuehmeu.

So liegt es uus dcuu nuch feru, erusthaft iu
Gednukcudichtuugcu die Durchführung wissenschnftlicher
Deukarbeit zu suchen. Es siud die Stimmuugs-
werte der Gedaukeu, dic alleiu dichterisch verweud-
bar sind, es sind die intcllektuelleu Gefühle, die Au-
schauuugeu, welche vou etwaigen Vergleichen mit sich
gebrncht wcrdeu, die Assozintioucu, die mit den bc-

hnudelteu Gednukeu vcrkuüpst siud, — cs ist nll
jeues Drum uud Drnu dcs Deukeus, uicht dns
Deukeu selber, dns wir poctisch hochschatzeu löuueu.
Gäbe uus Hnmlets Acouolog eiue wisseuschnftlich höchst
iuteressnnte nber uüchtcnie phhsiknlische vder chemischc
Auseiunudersetzuug über dcu Tod, cr ließe uuS nls
Kuustgeuießeude knlt — er erwärmt uus, weil cr
uus dns Fühleu uud Siuueu dcs leideudeu Priuzeu,
weil er uus HamletsPersöulichkeit nuschnulich mncht.
Wie gleichgiltig ließeu uus nls solche die logisckieu
Schlüsse ini Faust, wie tief dagegeu' ergreift uus diese
„Gednnken"-Dichtuug durch deu Empfiudungsgehalt,
den sie vermittelt, iudem sie uus eines großgenrtcteu
Meuscheu ringeudes Deukeu iu seiueu Gefühls-
werteu vorführt. Wirkeud nls reiue Gednnkeuvor-
gäuge, wirkeud alleiu mit ihreu wisseus chaftlichcu
Werteu würdeu uus jedeufalls Hnmlets wie Fnusteus
Schlüsse uicht auuäherud so fesselu, wie so, wie sie
sich gebeu, d. h. mit der gnuzeu Fülle uud Mncht
eben jeuer mit ihueu verbuudeueu Auschauuugeu uud
Gefühle, die der objektive Deuker zur Gewiunuug
reiuer Erkeuutuisse gernde n usscheide u müßte. Eiue
bcdeuteude Persöulichkeit, die rcich ist nu Verstnudes-
leben, wird sich nuch iu ihrem Dichteu verrateu nlS
dns, wns sie ist, aber der wissenschastliche Wert ihrer
Erkeuutuisse erhöht nls solcher deu poetischeu Wert
eiuer Dichtuug, die etwa jeue Erkenutnisse zum Stoff
hat, durchnus uicht. Dngegeu könueu wissenschnft-
lich sehr weuig bedeuteude Gednuken Stoff für sehr
bedeuteude Gednukendichtuugeu geben, wenu sie uur
vom rechteu Manne behaudelt werdeu. Daß die
Mcuscheu sterbeu, ist z. B. eiue Erkeuutnis, die recht
nllgemeiu uud wisseuschnftlich uubedeuteud ist. Aber
der große Dichter wird deu Gednukeu so behaudelu
köuueu, daß nll seine Gefühlswerte in uns errcgt
werdeu uud dadurch der Meuschheit gauzer Jnmmer
uus nufnßt.
 
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