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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0283

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Ikundsckau.

DLcdtung.

» Scböne Literatur. XXI.

Und Bebel sxrach! Zeitroman in zwei Bänden.
(Leipzig, Emil Herrmann senior.)

Dieser Roman will uns Einblicke in das sozialdemokratische
Parteigetriebe der Gegenwart und in die Wirkung der sozial-
demokratischen Agitation aus Einzelne geben. Sein Held ist
der rechte deutsche Jdealist Frischmuth, den wir als eiuen
jungen Buchdrucker kenuen lernen. Znm Schmerz seiner Mutter,

> die von all dem Politischen durchaus uichts wissen will, und
der Anna, die ihn heimlich liebt, wird Frischmuth mehr uud
mehr von der Partei umsponnen, denn Bebel, der ihn bezaubert
hat, will ihm wohl uud glaubt ihn brauchen zu können. Der
junge Mensch wird von den Leipziger Genossen als Delegirter
anf den Kopenhagner Kongreß geschickt. Mit der Liebe zu Helga,
einer juugen Kopenhagner Sozialistin, kommt er zurück, aber
ein dänischer Polizist denuuzirt ihu aus Eifersucht und seine
Mutter liefert bei der Haussuchung belastende Papiere aus
Rechtsgefühl aus: Frischmuth zieht auf füus Monate ins
Gefängnis. Nach seiner Entlassung ausgewieseu, geht er
wieder uach Dänemark uud lebt dort einige Zeit, als eifriges
Mitglied der Partei zugleich in deren Dienste. Er wird dann
von Helga nicht aus Liebe, soudern deshalb geheiratet, weil die
Dünin an ihm sühnen will, was ein Däne an ihm verbrochen.
Nach Deutschland zurückgekehrt, grüudet er bald in dem kleinen
Brandenbnrg ein Parteiblatt und kandidirt nun auch sür den
Reichstag. Er sällt durch, kurz darauf bringt ihn Bebel in
die Redaktion des „Vorwärts" nach Berlin. Allgemach habeu
aber die Einblicke in das Treiben der Parteileitung unserm
Frischmuth den Kopf mit Skrnpeln und Zweifelu gesüllt: das
wird iu Berlin nicht besser, und als Bebels Persönlichkeit
und sein Buch „Di? Fran" ipinrm Weibe den Sinn so ge-
wendet haben, Laß sie ihu schließlich verläßt, erschießt er sich.
Helga ihrerseits geht daraus ins Wasser. Mit allerlei Bildnissen
typischer Persöulichkeiten und allerlei Schildereien aus dem
Parteileben ist diese Handlung wie ein Schaugerüst behäugt.

Mir ist der Verdacht aufgestiegen, der ungenannte Ver-
fasser des Bnchs sei ein gewohnheitsmüßiger Kvlportage-
romanschreiber, der eiumal einen höheren Flug habe wagen
wollen. Die ersten Kapitel sind Leistungen, die ganz aus solche
Schriststellerei hindeuten: ein krastarmes aber phrasenreiches
Deutsch: eine wie aus Gewöhnung an das „Fortsetzung solgt"
nnt derben Spannuugen arbcitende Technik': eine Komposition,
die augenscheinlich das Kommende oft uoch nicht mit über-
schaut: in den Stimmungeu der Situationen uud in den Reden
der Einzelnen hüufig jene rührselige Schwülstigkeit, die der
Abnehmer des Kolporteurs wohl als „Gemüt" empfindet.
Aber das Buch wird besser, als es im Anfang verspricht. Die
tiradenreiche Mutter Frischmuth mit dcn mächtig großen
Scheuklappen vor deu geistigen Augen und die bezaubernd
schöne russische Nihilistiu, die beide ursprünglich, wie es scheint,
zu großen Rollen berufen gewesen, treten zurück, und der.
Verfasser gewinut allmählich, was er sreilich von Anfang an
hätte haben sollen: eiueu Nberblick über seine eigene Welt.
Auch die Technik verfeinert sich: die Expositionen bei dem
Eintreten neuer Persouen werden geschickter gegeben, als (wie
im Anfange) dadurch, daß der Betreffende nach der Regel des
Offenbachschen „Jch bin Meuelaus der gute" seiuen Paß auf-
sagt: die Motiviruug wird immerhiu besser, obgleich es an
großen und kleinen Unwahrscheinlichkeiten bis zum Schlusse
hiu nicht sehlt uud jede seelische Eutwicklung während der
ganzen Geschichte doch nur mit einem großen „Ruck" zu Tage
tritt; die Sprache bekommt etwas mehr Farbe und innere

Bewegung. Sind wirklich die beiden Bände von ein und
demselben Manne geschrieben, so hat er während seiner Arbeit
viel gelernt.

Und es ist ihm nicht abzustreiten: das Ganze ist lesens-
wert geworden. Jn unserm Volke, dessen obere Stünde so
zum Erschrecken wenig von der Arbeit der Sozialdemokraten
wissen, wird die Schilderung ihres Treibens Manchem Neues
bieteu: der Verfasser keunt wohl aus eigener Beobachtung die
betreffendeu Kreise, und einige insbesondere der Nebengestalten
in seinem Bilde sind gut gesehen und gezeichnet. Jch wollte,
er hütte sich aus einfach sachliche Schilderung beschräukt und
nicht eine Art von Polemik gegen die Sozialdemokratie auf-
genommen. Denn einer solchen Ausgabe war er so wenig
gewachsen, daß sich mir zuweilen die Frage ausgedrüngt hat:
will der Maun heimlich sür die Sache eintreten, die er zu
bekämpsen scheint? Was hslst uns der Nachweis, daß sich in
der sozialdemokratischen Parteileitung Unehrlichkeit, Gesinnungs-
losigkeit, Selbstsucht finden — die finden sich in chllen Parteien
und bieten hier wie dort zur Widerleguug von Grundsützen
nichts. Was beweist es gegen Bebels Buch, daß die Aus-
übung seiuer Forderungen unter den heutigen Verhültnissen
Menschen zu Grunde richtet? Es ist ja eben gegen diese
heutigen Verhältnisse gerichtet, und Helga könnte zudem wahr-
scheinlich ruhig bei ihrem Manne bleiben, hütte sie ihn nicht,
höchst unbebelisch, ohne Liebe aus uationalem Ehrgefühl
geheiratet. So wird durch die novellistische Polemik des
Namenlosen von den Sozialdemokraten sicherlich keiner bekehrt:
unter den Nichtsozialdemokraten aber dürfte sich mehr als
einer finden, der Gott vor solcherlei Freunden um Schutz bei
denkenden Lesern bittet.

Vom Tobenswege. Gedichte von Hans Hossmann.
(Leipzig, A. G. Liebeskind. M. 6,60).

Ein Gedichtbuch, iu dem sich das Lebeu des Poeten von
der Jugend bis zur Manneszeit in lauter Gelcgenheitsgedichten
spiegelt. Sind es lauter Gelegenheitsgedichte in Goetheschem
Sinue, sind es solche, die als unmittelbarer AusdruckderStimmung
entflosseu siud, welche eine „Gelegenheit" erzeugt hatte? Sind
uicht auch „Gelegenheitsgedichte" im geringeren Sinne darunter,
will sagen: solche, die einer „Gelegenheit", einem großen oder
kleiuen Ereignis zu Ehren geschrieben sind, ohne daß die
Poetenseele dies als natürlichen Niederschlag ihres geheimen
Schaffens vcrlangte hat? Es finden sich Gedichte von beiden
Arten im Buch. Gedichte, denen Ursprünglichkeit aus den
hellen Augen sieht, Gedichte, die auf der Stirne ein Fültchen
vom Nachdenken tragen. Und das ist ganz in der Ordnung,
denn auch sinnige Betrachtuug ist ein gutes Diug, echte Lyrik
aber ein so seltenes, daß mit ihr allein uoch keiner, selbst ein
Goethe uicht, ein ganzes Buch gefüllt hat. Die blauen
Wunderblumen wachsen nicht beetweis, aber die Beete können
schön sein auch von andern Blumen.

Die Stücke der ersten Abteilungen, die Jugendliebe und
jugendliche Liebelei, Wanderleben und Heimkehr und Berufs-
arbeit u. s. w. beschauen, besprechen uud besingen, haben weder
rein menschlich noch künstlerisch sehr weit hervorragenden Wert;
in solcher Art hat schon manch guter Deutscher gefühlt, gedacht
uud gedichtet, eben als eiu guter Deutscher, nicht als gerade
dieser besoudere Mensch. Aber die Vertiefung des Älter-
werdenden tritt in der Sammlung je lünger, je mehr hervor
uud damit das Persönliche. Da ertönt seltener und seltener
ein blos gefälliger Kliugklaug der anfaugs ziemlich üußerlichen
Formbehandlung, uud Rhythmus uud Reim wird mehr und
mehr kennzeichuend sür das, was die Seele in Schwingung


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