nimmer vergessen, daß sie wohl einen weit breiteren
Einfluß haben können als echte Dichtung, nie aber bei
denen, die Poesie wirklich genießen können, einen nur
annähernd ebenso tiefen.
Lesen wir aber in den Besprechungen neuer Gedicht-
bücher, wie sie nicht nur unsre Tageszeitungen, wie sie auch
unsre angesehensten Monatsschriften bringen, so drängt
sich dem Einsichtigen die Beobachtung auf, daß das
Unterscheidungsvermögen für die beiden
verschiedenen und ungleichwertigen Künste
schwächer nnd schwächer wird. Jn dieser Be-
ziehung ist auch unser jüngstes Geschlecht um keines Fußes
Breite weitergeschritten, als das ältere. Deshalb ist
es Pslicht, die Wesensverschiedenheit von Dichtung und
Rednerkunst sich immer aufs Neue zu vergegenwärtigen,
selbst auf die Gefahr hin, die Einsichtigen durch solche
Wiederholung zu ermüden. Bier und Wein sind zwei
gute Getränke, aber es wird nichts Schmackhaftes daraus,
wenn mau sie zusammengießt. Jhr verehrten Schriftsteller
und Poeten: gießt uns nicht immer, immer wieder Bier
und Wein in dasselbe Glas!*
* Jm „Kunstwart" ist der Gegenstand zum ersten Mat
ausführlich und mit Beispielen von Wolfg. Kirchbach behandelt
worden; vgl. die Leitaufsätze Kw. I, 20 und 2t-
Ikundsckau.
Dicktung.
* Scvöne Ltreratur. XVII.
An offener See. Roman von August Striudberg.
Deutsch von M. von Borch. (Dresden, E. Piersons Verlag,
3 Mark.)
Wieder eine jener überaus fein und fcharf zergliedernden
Seelenstudien, wie wir sie eigentlich nur aus Skandinavien
erhalten.
Jm Mittelpunkt des Jnteresses stand bisher in Strind-
bergs Arbeiten das Weib. Man weiß, für ihn giebt es nur
ein Weib; ob es alt oder jung, fchön oder häßlich und wie
es erzogen und augezogeu sei — es ist immer nur das eine,
eben das Strindbergsche Weib, das er mit grausamer Kunst
schildert. Jenes Mittelding zwischen Mann und Kind, das an
„chronischer Anämie" leidet, der aufgeschossene und dann in der
Entwicklung stehen gebliebene „Jüngling mit Mutterbrüsten",
dem unsere Narreuwelt eine Stellung einrüumt, als hätt er ein
Großhirn wie der Mann, und der nun diese Stellung, dumm und
begierig wie er ist, zum Schaden des Menschengeschlechts auf
das Unheilvollste mißbraucht. Mit immer neuen Gründen, mit
Waffen, die aus allen möglichen Wissenschaften hergeliehen sind,
führt Strindberg den „Kampf der Geschlechter", zergliedernd,
zusammensetzend, als Forscher, als Kritiker, als Polemiker, als
Poet. Und er beansprucht Allgemeingiltigkeit für feine Ergeb-
nisse, die doch ganz ersichtlich auch nicht uubefangen, sondern
so gut vom Gemütslebeu angeregt sind, wie die der Frauen-
verherrlicher.
Jn dem vorliegenden Roman tritt „das" Strindbergsche
Weib auch auf, aber nicht als Hauptperson, denn daß sie als
das eigentlich Zerstörende in das Leben des Helden eintrete,
soll wohl hier kaum üewiesen werden. Dieser junge Fischerei-^
inspektor, der ein großer Denker und Gelehrter, der überhaupt
in jeder geistigen Beziehung beinahe eine Übermensch ist, dieser
bis zum äußersten verseinerte und in den verschiedensten Dimen-
sionen mit höchster Kraftsteigerung arbeitende Nerven-Organis-
mus geht an sich selbst zu Grunde, nicht an diesem Weibe, Las
er mit Lem Verstande von Ansang an Lurchschaut und das er
mit den Sinnen gar nicht begehren würde, wären seine ver-
schiedenen Seeleneigenschaften halbwegs in Harmonie. Und
auch am Zwiespalt mit Lieser Außenwelt von Halbgebildeten
und Ungebildeten, von „Wilden" geht er nicht zu Grunde.
Wird er schließlich wahnsinnig und sucht er den Tod, so heißt
das einfach u die allzuscharfe Spitze bricht. Der Roman ist ein
Trauerspiel des überseinerten Mannes, der in unsere Zeit noch
nicht paßt. Und als solches ift er als ein höchst interessantes, ,
als ein sehr bedeutendes Werk von stark, oft bis zur Schrullen-
haftigkeit stark persönlichem Gepräge driugend der Beachtung
des vorurteilslosen, denkfreudigen, vertiefungssähigen, ernsten
— und kritischen Lesers zu empfehlen.
Jch habe vor ihm wieder das schmerzliche Gefühl em-
pfangen, daß wir Deutschen derartige Werke doch eben noch nicht
hervorbringen könueu. Woran liegt das nur? Schwerlich an
dem Mangel an Talenten. Eher wohl daran, daß sich noch
immer nur wenige und nicht immer die kräftigstbegabten
unsrer Romanschrifteller ganz zu geben wagen, wie sie sind:
daß sie bei allem, was sie fchreiben, ans liebe Publikum denken
und daran, was es haben will, an die Kritik und daran, was
sie, die Durchschnitts- oder auch die Partei-Kritik, etwa loben
oder tadeln werde, an die Verleger, die, sanfte Diener des
Kapitals, vou jenen beiden Mächten abhängig find. Könnten
unsere Schriftsteller den Mut echter Wahrhaftigkeit fassen,
genau so zu fchreiben, wie es ihnen gefallen würde, könnten
sie sich unter ihrem Publikum eines von Gleichen vorstellen,
mit dem sie sich auseinandersetzen, nicht von Kindern, die sie
unterhalten wollten, könuten sie sich von all den politischen
und gesellschaftlichen und finanziellen Rücksichten freimachen,
von denen wir in unserm Deutschland eingeengt werden wie
von chinesischen Mauern, die man nicht nur nicht überschreiten,
über die man nicht einmal hinwegzeigen darf — wir würden
wohl bald eine ernfthafte Romauliteratur bekommen. Nicht
im besondern die künstlerischen, sondern die allgemeinen Kul-
turverhältnisse unsrer Gegenwart sind es, die auch die deutsche
Dichtung uiederhalten.
Unter Rameraden. Roman von Osterloh. (Dresden,
Heinrich Minden, 3 Mk.)
Die Versasserin dieser Geschichte aus Offiziers- und aus
Künstlerkreisen strebt nach anderen Kränzen als solchen, die
aus den Leihbibliotheken zu holen sind, und freilich eben nur
leihweise auf ein paar Jahre oder Jahrzehnte. Trotz der unter-
haltsam-leichten Weise der Schilderungen ist das Bestreben un-
verkennbar, den Dingen möglichst auf den Grund zu gehen,
und das Wesen Ler geschilderten Gesellschaftskreise wie der
einzelnen Menschenpersönlichkeiten aus der Tiefe heraus zu
kennzeichuen. Wir finden denn auch Stellen genug, wo sich
ganz augenscheinlich eine Eigenempfindung das Dargestellte
selber aus der Wirklichkeit herausgezogen hat, und schon die
sorgfältige Art des Begründens im Einzelnen beweist das
Bemühen nach eindringendem Verstehen und eindringlichem
Wiedergeben. So geht die Verfasserin den besten Weg.
Selbstverstündlich ist sie auf ihm noch nicht dahin gekommen,
wo die Meister schaffen. Noch fehlt ihr die gründliche Los-
— iss
Einfluß haben können als echte Dichtung, nie aber bei
denen, die Poesie wirklich genießen können, einen nur
annähernd ebenso tiefen.
Lesen wir aber in den Besprechungen neuer Gedicht-
bücher, wie sie nicht nur unsre Tageszeitungen, wie sie auch
unsre angesehensten Monatsschriften bringen, so drängt
sich dem Einsichtigen die Beobachtung auf, daß das
Unterscheidungsvermögen für die beiden
verschiedenen und ungleichwertigen Künste
schwächer nnd schwächer wird. Jn dieser Be-
ziehung ist auch unser jüngstes Geschlecht um keines Fußes
Breite weitergeschritten, als das ältere. Deshalb ist
es Pslicht, die Wesensverschiedenheit von Dichtung und
Rednerkunst sich immer aufs Neue zu vergegenwärtigen,
selbst auf die Gefahr hin, die Einsichtigen durch solche
Wiederholung zu ermüden. Bier und Wein sind zwei
gute Getränke, aber es wird nichts Schmackhaftes daraus,
wenn mau sie zusammengießt. Jhr verehrten Schriftsteller
und Poeten: gießt uns nicht immer, immer wieder Bier
und Wein in dasselbe Glas!*
* Jm „Kunstwart" ist der Gegenstand zum ersten Mat
ausführlich und mit Beispielen von Wolfg. Kirchbach behandelt
worden; vgl. die Leitaufsätze Kw. I, 20 und 2t-
Ikundsckau.
Dicktung.
* Scvöne Ltreratur. XVII.
An offener See. Roman von August Striudberg.
Deutsch von M. von Borch. (Dresden, E. Piersons Verlag,
3 Mark.)
Wieder eine jener überaus fein und fcharf zergliedernden
Seelenstudien, wie wir sie eigentlich nur aus Skandinavien
erhalten.
Jm Mittelpunkt des Jnteresses stand bisher in Strind-
bergs Arbeiten das Weib. Man weiß, für ihn giebt es nur
ein Weib; ob es alt oder jung, fchön oder häßlich und wie
es erzogen und augezogeu sei — es ist immer nur das eine,
eben das Strindbergsche Weib, das er mit grausamer Kunst
schildert. Jenes Mittelding zwischen Mann und Kind, das an
„chronischer Anämie" leidet, der aufgeschossene und dann in der
Entwicklung stehen gebliebene „Jüngling mit Mutterbrüsten",
dem unsere Narreuwelt eine Stellung einrüumt, als hätt er ein
Großhirn wie der Mann, und der nun diese Stellung, dumm und
begierig wie er ist, zum Schaden des Menschengeschlechts auf
das Unheilvollste mißbraucht. Mit immer neuen Gründen, mit
Waffen, die aus allen möglichen Wissenschaften hergeliehen sind,
führt Strindberg den „Kampf der Geschlechter", zergliedernd,
zusammensetzend, als Forscher, als Kritiker, als Polemiker, als
Poet. Und er beansprucht Allgemeingiltigkeit für feine Ergeb-
nisse, die doch ganz ersichtlich auch nicht uubefangen, sondern
so gut vom Gemütslebeu angeregt sind, wie die der Frauen-
verherrlicher.
Jn dem vorliegenden Roman tritt „das" Strindbergsche
Weib auch auf, aber nicht als Hauptperson, denn daß sie als
das eigentlich Zerstörende in das Leben des Helden eintrete,
soll wohl hier kaum üewiesen werden. Dieser junge Fischerei-^
inspektor, der ein großer Denker und Gelehrter, der überhaupt
in jeder geistigen Beziehung beinahe eine Übermensch ist, dieser
bis zum äußersten verseinerte und in den verschiedensten Dimen-
sionen mit höchster Kraftsteigerung arbeitende Nerven-Organis-
mus geht an sich selbst zu Grunde, nicht an diesem Weibe, Las
er mit Lem Verstande von Ansang an Lurchschaut und das er
mit den Sinnen gar nicht begehren würde, wären seine ver-
schiedenen Seeleneigenschaften halbwegs in Harmonie. Und
auch am Zwiespalt mit Lieser Außenwelt von Halbgebildeten
und Ungebildeten, von „Wilden" geht er nicht zu Grunde.
Wird er schließlich wahnsinnig und sucht er den Tod, so heißt
das einfach u die allzuscharfe Spitze bricht. Der Roman ist ein
Trauerspiel des überseinerten Mannes, der in unsere Zeit noch
nicht paßt. Und als solches ift er als ein höchst interessantes, ,
als ein sehr bedeutendes Werk von stark, oft bis zur Schrullen-
haftigkeit stark persönlichem Gepräge driugend der Beachtung
des vorurteilslosen, denkfreudigen, vertiefungssähigen, ernsten
— und kritischen Lesers zu empfehlen.
Jch habe vor ihm wieder das schmerzliche Gefühl em-
pfangen, daß wir Deutschen derartige Werke doch eben noch nicht
hervorbringen könueu. Woran liegt das nur? Schwerlich an
dem Mangel an Talenten. Eher wohl daran, daß sich noch
immer nur wenige und nicht immer die kräftigstbegabten
unsrer Romanschrifteller ganz zu geben wagen, wie sie sind:
daß sie bei allem, was sie fchreiben, ans liebe Publikum denken
und daran, was es haben will, an die Kritik und daran, was
sie, die Durchschnitts- oder auch die Partei-Kritik, etwa loben
oder tadeln werde, an die Verleger, die, sanfte Diener des
Kapitals, vou jenen beiden Mächten abhängig find. Könnten
unsere Schriftsteller den Mut echter Wahrhaftigkeit fassen,
genau so zu fchreiben, wie es ihnen gefallen würde, könnten
sie sich unter ihrem Publikum eines von Gleichen vorstellen,
mit dem sie sich auseinandersetzen, nicht von Kindern, die sie
unterhalten wollten, könuten sie sich von all den politischen
und gesellschaftlichen und finanziellen Rücksichten freimachen,
von denen wir in unserm Deutschland eingeengt werden wie
von chinesischen Mauern, die man nicht nur nicht überschreiten,
über die man nicht einmal hinwegzeigen darf — wir würden
wohl bald eine ernfthafte Romauliteratur bekommen. Nicht
im besondern die künstlerischen, sondern die allgemeinen Kul-
turverhältnisse unsrer Gegenwart sind es, die auch die deutsche
Dichtung uiederhalten.
Unter Rameraden. Roman von Osterloh. (Dresden,
Heinrich Minden, 3 Mk.)
Die Versasserin dieser Geschichte aus Offiziers- und aus
Künstlerkreisen strebt nach anderen Kränzen als solchen, die
aus den Leihbibliotheken zu holen sind, und freilich eben nur
leihweise auf ein paar Jahre oder Jahrzehnte. Trotz der unter-
haltsam-leichten Weise der Schilderungen ist das Bestreben un-
verkennbar, den Dingen möglichst auf den Grund zu gehen,
und das Wesen Ler geschilderten Gesellschaftskreise wie der
einzelnen Menschenpersönlichkeiten aus der Tiefe heraus zu
kennzeichuen. Wir finden denn auch Stellen genug, wo sich
ganz augenscheinlich eine Eigenempfindung das Dargestellte
selber aus der Wirklichkeit herausgezogen hat, und schon die
sorgfältige Art des Begründens im Einzelnen beweist das
Bemühen nach eindringendem Verstehen und eindringlichem
Wiedergeben. So geht die Verfasserin den besten Weg.
Selbstverstündlich ist sie auf ihm noch nicht dahin gekommen,
wo die Meister schaffen. Noch fehlt ihr die gründliche Los-
— iss