lösung von den Voraussetzungen des Herkömmlichen, von den
Wertbestimmungen durch die Mehrheit, welcher Loslösung doch
keiner mehr bedarf, als der sachliche Schilderer unserer Zeit.
Noch fühlt sie sich veranlaßt, sittliche Beurteilungen in ihr
realistisches Hans hineinzulassen — es geschieht das sehr ge-
schickt durch die Hinterthürchen der Reden Anderer, aber doch
nicht nur zur Charakteristik der Sinnesart dieser Andern,
sondern zur Erleichterung ihres eignen Herzens. Gebe ich
einen polemischen oder einen Tendenzroman, so weiß jeder,
daß ich überreden will, und stellt darauf hin sein Bewußtsein
ein; gebe ich etwas in der Technik und Form der objektiven
Dichtung, so wirkt das Benutzen sremder Reden nur sür per-
sönliche Ansichten als ästhetische Erschleichnng. Der unglück-
liche Versuch, durch den Mund des milder gewordenen Haupt-
helden allerlei üble Erscheinungen bei Offizieren zu entschuldigen,
ist das schlimmste Beispiel sür solchen Gedankenschmuggel —
der objektive Dichter kann nicht anders entschuldigen oder an-
klagen, als dadurch, daß er das Wesen der Dinge zeigt.
Die Sprache der Frau Osterloh ist meist natürlich und srisch;
nur recht selten lausen noch papierene Bildungen unter. All
das sind Mängel, die sich von Jahr zu Jahr verringern werden:
die Hauptsache ist, daß die Verfasserin die Fähigkeit zu an-
schaulicher Darstellung und ganz unverkennbar die ernste
Absicht besitzt, diese Fähigkeit auszubilden. Und so dürfen wir
hoffen, daß die Nachsolger des vorliegenden Buches ein noch
höheres Lob verdienen werden, als das ungewöhnlich guter
Unterhaltungsschriften sür weitere Kreise.
Tbeater.
Scbrttten zur Wübnen-Newrm. (Schluß.)
Aus dem durch Adlers und Anderer Anregung geschaffenen
Boden sußt eine Schrift von Kurt Baecker: „Die Volks-
n nte^haltnna."* * Sie behandelt lie im Titel angedeutete
Frage auch nach der Seite der musikalischen, künstlerischen
und geselligen Bildung des Volkes und giebt vor allem einen
dankenswerten Überblick über die Geschichte der durch Adlers
Schrift angeregten Bewegung.
Daß der Bedeutung des Theaters als Bildungs- und
Erziehungsmittels in immer weiteren Kreisen gebührende
Würdigung geschenkt wird, lehrt die Schrift eines Theologen,
die bereits in zweiter Auslage vorliegt: „Theater und
Kirche."* Man wird nicht überrascht sein, in dem Verfasser
dieser Schrift, der in der geschichtlichen Darstellung des Ver-
hältnisses von Kirche nnd Theater ein tüchtiges Wissen verrät,
einen ausgesprochenen Freund der Lutherfestspiele zu finden,
wohl aber, hier eine Stimme der Entrüstung darüber zu hören,
daß die gesamte Aufsicht des Staates über das Theaterwesen
polizeilich ist. Theater und Polizei, darin liegt allerdings die
ganze Hohlheit der Staatsanschauung von Zweck und Wesen
des Theaters deutlich ausgcsprochen. Unser Theologe stellt
nun, indem er in geistiger und sittlicher Hinsicht eine Reform
des Theaters als notwendig bezeichnet, die grundsätzliche
Forderung auf, daß das Theater dem Polizeiressort wieder zu
entziehen und in die Reihe der Kunst- und Bildungsanstalten
einzustellen sei, also in die Verwaltung der Ministerieu sür
Unterricht und Kultus. Leider spricht sich der Verfasser nicht
genügend darüber aus, in welcher Weise er sich die Leitung
des Theaterwesens durch diese Behörde denkt. Denn in den
solgenden Vorschlägen, die immerhin der Erwägung wert sind,
* Berlin l893. Verlag der Deutschen Schriftsteller-
Genossenschaft.
* Theaterund Kirche. Darstellung ihres geschichtlichen
Verhältnisses mit einem Ausblick in die Zukunft. Von einem
Theologen. Bremen. (M. Heinsius Nachf.)
ist doch nur der üußere Weg vorgezeichnet. Es heißt da:
„Die Staatsverwaltuug hat dann zunächst die Ausgabe, mit
Hilfe der Statistik zu ermitteln, welche Orte im Stande seien,
ein Theater bei ordentlicher Verwaltnng selbst zu unterhalten.
Wo eine Stadt dazu allein nicht im Stande ist, haben sich
mehrere Städte in der Weise zu vereinigen, daß die Bühne
einer jeden nach Verhältnis eine bestimmte Zeit in vorher
zu vereinbarender Reihenfolge angehört. Die Verwaltung
des gesamten Bühnenverbandes müßte dann etwa von den
Hoftheatern aus geregelt werden. (Jn der Anmerkung hierzu
heißt es: Es leuchtet ein, daß in diesem Zukunftsbild
ein Hoftheater auch etwas ganz Anderes darstellen müßte, als
die gegenwärtig diese Stelle einnehmenden Theater.) Die
Verwaltung der einzelnen Bühnen wird in die Hände von
tüchtigen technischen Direktoren gelegt, die nicht nur praktische
Ersahrung besitzen, sondern auch Kunstverständuis und sittlichen
Charakter." An ihre Stelle können auch dramaturgische Schrift-
steller treten, deren Hilfe als literarischer Beiräte empfohlen
wird. „Eben ein solcher würde am passendsten die Jnteressen
der gesamten Bühnenangelegenheiten im Ministerium vertreten."
Als selbstverständlich wird endlich die Gründung einer Theater-
schule und eine Regelung des Pensionswesens vom Staate bei
der Übernahme der Theaterverwaltung gesordert. Jn der That:
ein hübscher Stranß von Vorschlägen und Gedanken, die leicht
zusammenzufügen, schwer aber zu pflegeu und srisch zu erhalten
sind. So viel Gedanken, so viel Fragezeichen! Daß das
Theater unter der Zuchtrute der Polizei nicht am rechten
Platze ist, wird nicht zu bestreiten sein. Nur müßte der Ver-
fasser den Nachweis führen, daß das von ihm empfohlene
Ministerium mehr Verständnis und mehr Milde besitzt, als
die Polizei. Gelingt es, diesen Nachweis zu sühren, dann
läßt sich über die ferneren Punkte des Planes reden, vorher
enträt es des praktisch-m Zieles. Der Wenn und Aber enthält
der Plan vorerst zu viele. Jmmerhin verdient die Mahnuug
des Theologen an seine Amtsbrüder Beachtung, die dahin
geht, nicht länger gegen den Besuch der Theater zu eifern,
sondern den Sinn sür eine Theaterreform zu wecken. Eine
solche bedarf vieler Hilse, und jeder Gebildete sollte dazu sein
Scherfiein beitragen.
Diese wohlmeinende Absicht hat wohl auch K. Fr. Iordan
bei Abfassung seiner Schrist: „DiemoderneBühneund
die Sittlichkeit" geleitet.* Zeichnete der Verfasser nicht
ausdrücklich als Lehrer der Naturwissenschaften, so würde man
ihn im Lager des ebengenannten Theatersreundes suchen. Von
dem Standpunkte der Sittlichkeit untersucht er eine Reihe
neuerer Dramen, Unterhaltungsstücke und andere Kunstwerke,
nnd vermißt in ihnen allen den Geist des Christentumes, aus
dem er die Wiedergeburt der Bühnendichtung erwartet. Die
Kunst ist niemals etwas anderes, als eine Wiederspiegelung
des Zeitgeistes gewesen. Jordans Wünsche hängen demnach
von Umständen ab, an denen die Kunst nur geringen Einfluß
üben kann. Nach welcher Seite hin diese Umstände sich
entwickeln, steht hier nicht zu erörtern. Teonh. Lier.
* Micbtigere Scbausptel--NuMbruiigen. xmi.
Otto Erich Hartlebens Komödie „Hanna Jagert"
kam nun doch noch auf das Lessingtheater. Es ist ein Schau-
spiel vom Rechte freier Selbstbestimmung der Frau. Als die
Tochter des Maurerpoliers Jagert, dieses kleinen Haustyrannen
und großen Philisters, der sich sür eineu verständnisvollen
Sozialdemokraten hält, in ihrem Gefühlsleben erwacht war,
hatte sie geglaubt, in Konrad Thieme, dem ehrlichen Jdealisten
und „Genossen", den Mann ihrer Liebe zu sehen, wührend der
* 3. Auflage. (Rethwisch und Seeler. Berlin. l89i-)
— i»s —
Wertbestimmungen durch die Mehrheit, welcher Loslösung doch
keiner mehr bedarf, als der sachliche Schilderer unserer Zeit.
Noch fühlt sie sich veranlaßt, sittliche Beurteilungen in ihr
realistisches Hans hineinzulassen — es geschieht das sehr ge-
schickt durch die Hinterthürchen der Reden Anderer, aber doch
nicht nur zur Charakteristik der Sinnesart dieser Andern,
sondern zur Erleichterung ihres eignen Herzens. Gebe ich
einen polemischen oder einen Tendenzroman, so weiß jeder,
daß ich überreden will, und stellt darauf hin sein Bewußtsein
ein; gebe ich etwas in der Technik und Form der objektiven
Dichtung, so wirkt das Benutzen sremder Reden nur sür per-
sönliche Ansichten als ästhetische Erschleichnng. Der unglück-
liche Versuch, durch den Mund des milder gewordenen Haupt-
helden allerlei üble Erscheinungen bei Offizieren zu entschuldigen,
ist das schlimmste Beispiel sür solchen Gedankenschmuggel —
der objektive Dichter kann nicht anders entschuldigen oder an-
klagen, als dadurch, daß er das Wesen der Dinge zeigt.
Die Sprache der Frau Osterloh ist meist natürlich und srisch;
nur recht selten lausen noch papierene Bildungen unter. All
das sind Mängel, die sich von Jahr zu Jahr verringern werden:
die Hauptsache ist, daß die Verfasserin die Fähigkeit zu an-
schaulicher Darstellung und ganz unverkennbar die ernste
Absicht besitzt, diese Fähigkeit auszubilden. Und so dürfen wir
hoffen, daß die Nachsolger des vorliegenden Buches ein noch
höheres Lob verdienen werden, als das ungewöhnlich guter
Unterhaltungsschriften sür weitere Kreise.
Tbeater.
Scbrttten zur Wübnen-Newrm. (Schluß.)
Aus dem durch Adlers und Anderer Anregung geschaffenen
Boden sußt eine Schrift von Kurt Baecker: „Die Volks-
n nte^haltnna."* * Sie behandelt lie im Titel angedeutete
Frage auch nach der Seite der musikalischen, künstlerischen
und geselligen Bildung des Volkes und giebt vor allem einen
dankenswerten Überblick über die Geschichte der durch Adlers
Schrift angeregten Bewegung.
Daß der Bedeutung des Theaters als Bildungs- und
Erziehungsmittels in immer weiteren Kreisen gebührende
Würdigung geschenkt wird, lehrt die Schrift eines Theologen,
die bereits in zweiter Auslage vorliegt: „Theater und
Kirche."* Man wird nicht überrascht sein, in dem Verfasser
dieser Schrift, der in der geschichtlichen Darstellung des Ver-
hältnisses von Kirche nnd Theater ein tüchtiges Wissen verrät,
einen ausgesprochenen Freund der Lutherfestspiele zu finden,
wohl aber, hier eine Stimme der Entrüstung darüber zu hören,
daß die gesamte Aufsicht des Staates über das Theaterwesen
polizeilich ist. Theater und Polizei, darin liegt allerdings die
ganze Hohlheit der Staatsanschauung von Zweck und Wesen
des Theaters deutlich ausgcsprochen. Unser Theologe stellt
nun, indem er in geistiger und sittlicher Hinsicht eine Reform
des Theaters als notwendig bezeichnet, die grundsätzliche
Forderung auf, daß das Theater dem Polizeiressort wieder zu
entziehen und in die Reihe der Kunst- und Bildungsanstalten
einzustellen sei, also in die Verwaltung der Ministerieu sür
Unterricht und Kultus. Leider spricht sich der Verfasser nicht
genügend darüber aus, in welcher Weise er sich die Leitung
des Theaterwesens durch diese Behörde denkt. Denn in den
solgenden Vorschlägen, die immerhin der Erwägung wert sind,
* Berlin l893. Verlag der Deutschen Schriftsteller-
Genossenschaft.
* Theaterund Kirche. Darstellung ihres geschichtlichen
Verhältnisses mit einem Ausblick in die Zukunft. Von einem
Theologen. Bremen. (M. Heinsius Nachf.)
ist doch nur der üußere Weg vorgezeichnet. Es heißt da:
„Die Staatsverwaltuug hat dann zunächst die Ausgabe, mit
Hilfe der Statistik zu ermitteln, welche Orte im Stande seien,
ein Theater bei ordentlicher Verwaltnng selbst zu unterhalten.
Wo eine Stadt dazu allein nicht im Stande ist, haben sich
mehrere Städte in der Weise zu vereinigen, daß die Bühne
einer jeden nach Verhältnis eine bestimmte Zeit in vorher
zu vereinbarender Reihenfolge angehört. Die Verwaltung
des gesamten Bühnenverbandes müßte dann etwa von den
Hoftheatern aus geregelt werden. (Jn der Anmerkung hierzu
heißt es: Es leuchtet ein, daß in diesem Zukunftsbild
ein Hoftheater auch etwas ganz Anderes darstellen müßte, als
die gegenwärtig diese Stelle einnehmenden Theater.) Die
Verwaltung der einzelnen Bühnen wird in die Hände von
tüchtigen technischen Direktoren gelegt, die nicht nur praktische
Ersahrung besitzen, sondern auch Kunstverständuis und sittlichen
Charakter." An ihre Stelle können auch dramaturgische Schrift-
steller treten, deren Hilfe als literarischer Beiräte empfohlen
wird. „Eben ein solcher würde am passendsten die Jnteressen
der gesamten Bühnenangelegenheiten im Ministerium vertreten."
Als selbstverständlich wird endlich die Gründung einer Theater-
schule und eine Regelung des Pensionswesens vom Staate bei
der Übernahme der Theaterverwaltung gesordert. Jn der That:
ein hübscher Stranß von Vorschlägen und Gedanken, die leicht
zusammenzufügen, schwer aber zu pflegeu und srisch zu erhalten
sind. So viel Gedanken, so viel Fragezeichen! Daß das
Theater unter der Zuchtrute der Polizei nicht am rechten
Platze ist, wird nicht zu bestreiten sein. Nur müßte der Ver-
fasser den Nachweis führen, daß das von ihm empfohlene
Ministerium mehr Verständnis und mehr Milde besitzt, als
die Polizei. Gelingt es, diesen Nachweis zu sühren, dann
läßt sich über die ferneren Punkte des Planes reden, vorher
enträt es des praktisch-m Zieles. Der Wenn und Aber enthält
der Plan vorerst zu viele. Jmmerhin verdient die Mahnuug
des Theologen an seine Amtsbrüder Beachtung, die dahin
geht, nicht länger gegen den Besuch der Theater zu eifern,
sondern den Sinn sür eine Theaterreform zu wecken. Eine
solche bedarf vieler Hilse, und jeder Gebildete sollte dazu sein
Scherfiein beitragen.
Diese wohlmeinende Absicht hat wohl auch K. Fr. Iordan
bei Abfassung seiner Schrist: „DiemoderneBühneund
die Sittlichkeit" geleitet.* Zeichnete der Verfasser nicht
ausdrücklich als Lehrer der Naturwissenschaften, so würde man
ihn im Lager des ebengenannten Theatersreundes suchen. Von
dem Standpunkte der Sittlichkeit untersucht er eine Reihe
neuerer Dramen, Unterhaltungsstücke und andere Kunstwerke,
nnd vermißt in ihnen allen den Geist des Christentumes, aus
dem er die Wiedergeburt der Bühnendichtung erwartet. Die
Kunst ist niemals etwas anderes, als eine Wiederspiegelung
des Zeitgeistes gewesen. Jordans Wünsche hängen demnach
von Umständen ab, an denen die Kunst nur geringen Einfluß
üben kann. Nach welcher Seite hin diese Umstände sich
entwickeln, steht hier nicht zu erörtern. Teonh. Lier.
* Micbtigere Scbausptel--NuMbruiigen. xmi.
Otto Erich Hartlebens Komödie „Hanna Jagert"
kam nun doch noch auf das Lessingtheater. Es ist ein Schau-
spiel vom Rechte freier Selbstbestimmung der Frau. Als die
Tochter des Maurerpoliers Jagert, dieses kleinen Haustyrannen
und großen Philisters, der sich sür eineu verständnisvollen
Sozialdemokraten hält, in ihrem Gefühlsleben erwacht war,
hatte sie geglaubt, in Konrad Thieme, dem ehrlichen Jdealisten
und „Genossen", den Mann ihrer Liebe zu sehen, wührend der
* 3. Auflage. (Rethwisch und Seeler. Berlin. l89i-)
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