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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 20 (2. Juliheft 1893)
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Rundschau
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0324

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griffe einzuführen, statt lediglich die Namen der lateinischen
Grammatik entnommener, stellenweise morsch gewordener
grammatischer Begriffe mehr oder weniger angemessen zu
übertragen. Besonders aber der Aufsatz über das Futurum
und das Passivum giebt eine klare Vorstellung, wie wenig
die alten Schulregeln mit dem lebendigen Sprachgebrauch im
Einklange stehen. Trefflich ist auch der Abschnitt über unser
Zeitungsdeutsch. Und die Aussührungen Schumanns zeichnen
sich dadurch vor anderen dieser Art aus, daß er nicht wie
z. B. Wustmann beim einzelnen Fehler und an der Oberfläche
stehen bleibt, sondern das Grundsätzliche ins Auge saßt und
inneren Gründen des sehlerhaften Sprachgebrauchs nachspürt.
Wir hoffen, daß das Buch, vor allem auch bei Schulmännern,
die verdiente Beachtung finde. E.

* Die Frage der scbönen Gestnltung gross-
städtiscber Strassen ist in jüngster Zeit (durch Henrici)
wieder einmal in der „Deutschen Bauzeitung" behandelt worden,
und die langen geraden kamen in diesem Aufsatze erfreulicher-
weise nicht eben glimpslich weg. Das sreute Oberländer, den
Maler, und er richtete an den Versasser des Aufsatzes eine
Zuschrift, aus der auch wir einige Worte sehr berechtigten
Künstlerzornes abdrucken wollen: Das ganze leere, öde, nichts-
sagende Wesen unserer modernen Welt drückt sich in diesen
endlosen, schnurgraden Straßen aus. Die krumme Linie ist
die Linie des Lebens, sie weckt die Phantasie; die grade ist die
des Todes, sie erzeugt Gehirnverödung. Nicht malerische
Schrullen, die ja den Laien nichts angehen, sondern das ein-

sache menschliche Gesühl ist's, das uns auf die abwechselungs-
volle Linie hiuweist. Wenn einmal das Menschengeschlecht
vollständig ausstürbe und andere Lebewesen die schachbrett-
artigen Überreste Chicagos z. B. sänden, sie würden sie sür
Zellen halten, welche ein niedrig organisirtes Thier, z. B.
Bienen, hergestellt haben, nimmermehr sür Wohnstätten denken-
der sühlender Menschen! Selbst dem Fuhrmann vergangener
Jahrhunderte war die ganz grade, glatte, endlose Straße so
unerträglich, daß man sie absichtlich in Windungen anlegte.
„Ja, diese schließlich langweiligen graden Straßen sind eben
praktisch," hört man hundertmal sagen; warum denn aber
immer und immer wieder praktisch und scheußlich? Unsere
Alten hatten den Grundsatz „praktisch und schön!" Selbst der
Schönheitssinn äudert sich in unserem Jahrhundert in bedenk-
licher Weise; in manchen Romanen liest man von den „häßlichen
krummen" Straßen der alten Stadt im Gegensatze zu den
„schönen kerzengraden" der neuen Stadt. Jeder Architekt
hätte Ursache, gegen diese ewig langen graden Straßen zu
protestiren, denn auch das schöuste Gebäude kommt darin nie
zur Geltung. Man stelle sämtliche Paläste Venedigs in eine
unserer trostlosen graden Straßen, und das Ganze ist nur eine
endlose Fadheit, von allen jenen Schönheiten kommt nichts
zur Geltung! Unsere drei ültesten Hauptstraßen Münchens
haben einen herrlichen, abwechslungsvollen Grundriß und
sind zugleich die lebhastesten Verkehrsstraßen; sie liefern den
Beweis, daß auch eine lebhafte Verkehrsstraße nicht so sad wie
ein Eisenbahndamm sein muß.

Lprecbsaal.

In ^achen: Lseilung der Rritik.

Der im 1.8. Stück des „Kunstwarts" unter der vor-
stehenden Überschrift veröffentlichte Aufsatz giebt eine außer-
ordentlich treffende Kennzeichnung der Schäden der Kritik.
Zur Heilung dieser Schäden schlägt der Verfasser eine
Mobilisirung der Gesamtheit vor, um „den schleichenden
Verderber auf seinen Kreuz-, Quer- und Winkelzügen an-
dauernd zu verfolgen".

Die Gesamtheit der in der Presse THLtigen setzt sich
aber, mit wenigen Ausnahmen, aus solchen Einzelnen zu-
sammen, deren Jnteressen einer Bloßstellung des Rezen-
sententums durch Aufdeckung seiner Fehler und Gebrechen
entgegengesetzt find. Eine Gesamtheit zur Verfolgung der
oben gekennzeichneten Ziele wird sich also aus ihnen schwerlich
bilden lassen. Diejenigen aber, aus denen sich eine solche
Gesamtheit bilden ließe, kommen in der Presse nicht zum
Wort, wie dies ja in dem genannten Artikel schon dar-
gelegt wurde: „weil die meisten Blätter es für eine Art
moralischer Pslicht halten, den treuen Mitarbeiter zu decken".

Am auffallendsten zeigen sich die Mißstände aus dem
Gebiete der Künstkritik. Die Willkür des Rezensenten hat
hier freien Spielraum, weil das Publikum in Beurteilung
von Werken der bildenden Kunst noch viel blindgläubiger
ihm solgt, als da, wo es fich um literarische Erzeugnisse
handelt und weil eine Antikritik vollständig fehlt. Wohl
stehen fich die Urteile der Rezensenten selbst schroff gegen-
über, aber ohne daß aus dem Gegensatz Klärung entstünde.
Denn die Urteile sind Parteiurteile, ihre Verkündiger Ver-

treter einer Koterie. Diejenigen, die angeblich für die
junge Kunst eintreten, sind häufig noch schlimmer als die
Alten: sie streiten mehr noch und leidenschaftlicher als
diese nicht für eine Sache, sondern für ein paar gute
Freunde, deren technische Kunststücke oder deren exzentrisches
Gebahren sie als künstlerische Ofsenbarungen anpreisen, und
sie befestigen so im Publikum die Neigung, in auffallenden
Äußerlichkeiten das Wesen des Modernen zu sehen.

So ist es erklärlich, warum bei den Künstlern die
Achtung vor der zeitgenössischen Kunstkritik so tief gesunken
ist, daß sie ihr überhaupt keine Beachtung mehr schenken
und selbst an ernsten und ehrlichen Arbeiten, wie denjenigen
Gurlitts, Freihofers, Bierbaums u. A., gleichgültig vorüber-
gehen.

Nach dem Vorhergesagten scheint es mir kaum wahr-
scheinlich, daß eine „Mobilisirung der Gesamtheit", wenn
sie überhaupt möglich wäre, die Wirkungen Hervorbringen
könnte, die der Verfasser des angeführten Artikels erwartet.
Jch glaube, daß man mit Elitetruppen mehr erreicht, als
mit Massenaufgeboten. Eine Bereinignng, die sich durch
hochgesteckte Ziele und durch die Art ihrer Rekrutirung
ebensosehr von der deutschen Journalisten- nnd Schrist-
stellergenossenschaft unterschiede, wie etwa der Verein bilden-
der Künstler, die „Sezession", von der deutschen Kunst-
genossenschaft, könnte auf literarischem Gebiete ähnlich auf-
rüttelnd, reformirend, regenerirend wirken, wie die Sezession
auf künstlerischem. Lsermann Lichseld.


* Nnscbaulicbc Spracbe. Schlußaufsatz. — Nundscbau. Dichtung. Schöne Literatur, xxm. Gott-
sried Keller-Ausstellung. — Theater. Massenerzeugung von Theaterstücken. Jtalienische Theaterverhältnisse.
— Musik. Musik-Literatur XII. Neuere Musikalienausgaben I. Wagner in Frankreich. — Bildende Künste. Knnst-
blätter und Bilderwerke VI. Kunstliteratur VII. Architektur als Ausdruck. — Vermischtes. Literatur. Schöne Gestaltung
großstädtischer Straßen. — Lprecbsaal. Jn Sachen: Heilung der Kritik.




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