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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0289

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ewig ftlaren Felsenquelle in die blühende Welt hinaus-
blickend uns zuruft: Und die Sonne Homers, siehe, sie
scheinet auch uns!

Jch habe Ludwig Richter erwähnt, um zugleich auf
das Mittel hinzudeuten, das vor Allem geeignet ist, die
Freude an der Schönheit zu verbreiten, ich meine den Holz-
schnitt und Alles, was dazu gehört, die graphischen Künste.
Wir wissen ja seit Dürer, daß gerade wir Deutschen
besähigt sind, Alles, was wir auf dem Herzen haben, die
krausesten Einsälle und die zartesten Gefühle in solchen
Blättern niederzulegen, und wie der Holzschnitt auch die
mächtigsten Erschütterungen des ganzen Volkslebens aus-
drücken kann, mag Alfred Rethels genialer Totentanz
beweisen. Wie Delacroix' Barrikade eine Berherrlichung
der Revolution sind diese Bilder eine furchtbar ernste
Warnung vor ihr. Neuerdings ist im Lichtdruck sür die
Vervielfältigung ein weites Feld eröffnet, und man könnte
mit geringem Aufwand auch in den kleinsten Städten
Holzschnitte, Kupferstiche, Radirungen und Lichtdrucke
öffentlich ausstellen. Besonders wertvoll wäre sür diesen
Zweck der Farbendruck, wenn man zum Beispiel die
Volksschulen mit solchen Bildern schmückte. Es müßten
freilich gute Bilder sein. Denn wenn man das Kinder-
auge an reinen Formen sehen lehrt und wenn die klaren
schönen Harmonien echter Künstwerke sich dem Kindergemütc
einprägen, dann wendet auch der Sinn sich von der Roh-
heit, die wir an den unteren Ständen beklagen, und der
Widerwille gegen das Unreine ist ein wirksamerer Schutz
gegen das Unsittliche als Lehre und Ermahnung geben
können.

Übrigens ist der Formensinn Lei unseren Arbeitern
schon in weiten Küeisen entwickelt. Gut zu sehen ist in
Deutschland bei Armen und bei Reichen eine seltene Gabe,
und in jedem Stande giebt es stumpfe Seelen, denen die
Freude an der Schönheit versagt ist. Aber der Arbeiter,
der seine Sinne im täglichen Gebrauche schärst, bringt für
die Künst ein helles Auge mit, und Alle, die mit der
Vervielfältigung der Kunstwerke, beim inneren und äußeren
Schmuck der Häuser und in den mannigfachen Zweigen
des feineren Handwerks beschäftigt sind, blicken aufmerk-
sam auf alle Kunstformeu. Wir mögen die bunte Stil-
mischung der modernen Straßen als Zeichen eines unreisen
und unreinen Geschmackes beklagen, der großen Menge
bieten sie doch eine erfreuliche Gelegenheit zu sehen und
zu urteilen, und die Äußerungen dieser uugebildeten
Kritiker könnten oft Architekten und Dekoratören lehrreich
sein. Was ihnen fehlt, ist Unterweisung. So Viele, die
jetzt von Ort zu Ort wandernd romanische und gotische
Kirchen sehen, würden dankbar sein, wenn man ihnen von
dem verschiedenen Charakter der Stilarten und der Zeit,

in welcher sie entstanden sind, erzählen wollte. Jch habe
im letzten Sommer öfsentliche Vorträge über die Geschichte
der Baukunst für Fabrikarbeiter gehalten, und ich habe
niemals aufmerksamere Zuhörer gehabt.

Jn den größeren Städten sind die Museen auch für
die unteren Stände eine reiche Ouelle der Erholung und
Belehrung und könnten es noch viel mehr sein. Auch
einem alten Bilde und einer antiken Statue steht der ein-
fache Arbeiter oft mit mehr Verständnis gegenüber, als
der übersättigte Gebildete. Denn er bringt etwas mit,
das manchem Andern fehlt: das ist die Achtung vor dem
höheren Geist, der aus dem Künstwerk spricht, und die
lebendige Teilnahme, die, innerlich mitschafsend, die Absichten
des Künstlers verwirklicht.

Bei unserer öffentlichen Künstpslege sind die unteren
Stände bisher zu wenig beachtet. Man muß für sie
Lesondere Einrichtungen trefsen. England hat damit Lereits
begonnen. Jm Osten Londons ist schon t87 2 das
Bethnal-Green Museum erbaut zu wechselnden Ausstellungen
für die ärmere Bevölkerung. Ebenso werden in der
Toynbee-Hall und in dem großartigen Volkspalast, der
t887 gegründet ist, Gemäldeausstellungen veranstaltet und
Vorträge über Künst gehalten. Jn Deutschland ist man
erustlich bemüht, das Theater den Unbemittelten zu eröfsnen,
und an vielen Orten sind Volksunterhaltungsabende mit
gutem Erfolg eingeführt.

Wir streben dahin, daß auch der geringste Mann, der
als Bürger die Volksvertretung mitbestimmt und als
Soldat sein Leben für den Staat einsetzt, sich als lebendiges
Glied des Ganzen fühlt, daß er stolz auf die Arbeit blickt,
die seinen Anteil an der Aufgabe des Volkes bildet, und
wenn die Wissenschaft fortwahren wird, ihm diese Arbeit
zu erleichtern, damit er Muße gewinnt für ein menschen-
würdiges Dasein, so soll er diese Muße gebrauchen können,
um an der höheren Geistesbildung Teil zu nehmen. Wie
die Weisesten und Besten denken, sollen Kunst und Poesie
ihm offenbaren. Wer bedürfte ihrer Lehre und ihres
Trostes mehr als der Einfältige und Beladene? Sie
allein können seine Sitten bessern, seine Vergnügungen
veredeln und auch dem Ärmsten Herz und Augen öffncn
für jeden Sonuenstrahl, der in scin Leben fällt.

Es wird die Zeit kommen, daß die Poesie und die
Musik wie die bildenden Künste wieder, wie einst in der
Kirche, eine Stätte sinden werden, die dem ganzen Volke
offen steht. Mag das heute noch als ein schöner Traum
erscheinen, so können wir doch schon heute dahin wirken,
daß das Wort der alten Griechen zur Wahrheit werde:
die Kunst ist eine milde Frau, von ihrer Thür geht
Niemand ohne reiche Gabe.

Lprecbsaal.

Rritische würdigung der Gper als Runstform*

Wenn man die einzelnen Gebiete des Schönen hin-
sichtlich des Wertes durchmustert, der ihnen in der Gegen-
wart von der Mehrzahl der Menschen zugebilligt wird,
so kommt man leicht zu der Erkenntnis, daß von allen
Kunstformen der Oper in unserer Zeit wohl die regste

* Vgl. „Kunstwart" VI, 5.

Teilnahme und der meiste Beifall gezollt wird. Der
deutsche Komponist sindet nicht früher Ruhe, als bis er in
einer Oper seinen Zeitgenossen bewiesen hat, daß er auf
der Höhe der Zeit steht. Eine aufgeführte Oper ist ihm
Jugendtraum und oft noch sehnender Wunsch im Alter.
Wer keine Oper bei irgend welcher Generaldirektion
wenigstens lagern hat, darf demnächst über Musik über-




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