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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1892)
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Unsere Künste, [2]: zum Überblick
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0011

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Übertniguiig Wcignerscher Kimstwcise uuf die reiue
Jnftruineutulmusik uud iusbesoudere die Bersuche
zu immer mehr malender Gestaltung iu Pro-
grammmusik als eiue Verirrung anseheu. Mau ent-
lleide diese modernen Orchesterwerke des bleudendeu
Kolorits ihrer Jnstrumentation, um zu erkenuen, wie
viel hier der Schmuck, wie wenig der Orgauismus
bedeutet — und mau wird zugeben müsseu, daß die
Akten hier zum miudesteu noch uicht zu schließeu sind.
Und in der Oper — ach, wie wenig Vesseres ist
seit Waguer in der Oper vou Deutschen geschafseu
wordeu! Und uuter dem Besseren wie weuig ist
wirklich Eigenes! Wie oft sind es uicht nur die von
Waguer aufgestellten und für das Musikdrama uu-
zweifelhaft richtigen Grundsätze, die befolgt werden,
wie oft ist es schlichtweg der Komponist Richard
Wagner, dessen Musik uns, gemischt vielleicht nach
Eklektikerart mit einigem Andern, vorgesetzt wird!
Die Einfachheit und innere Gehaltenheit fehlt, scheiut
es uns, unserm Touschaffen von heute, und cs ist
wohl auch den meisten Musikfreunden in unserer
uervösen Zeit der Sinn für sie abhanden gekommen.

Nicht alleu immeihiu — auch uuter dcncu, die
Wagners Schasfen aus vollem Herzen bewunderu,
sind viele, die eine Eutwickluug seiner Auregungeu
gerade zu immer gesteigerter Aufgeregtheit hin uicht
für die einzige uud nicht für die günstigste Möglich-
keit halten. Neuerdings macht sich immer stärker ein
Drang geltend, die seit Jahrzehnten von der musik-
geschichtlicheu Forschuug ausgegrabeueu Schätze der
Zeit vor Bach, ja der Zeit vor Palestrina wieder
zu geuießen. Vielleicht, daß aus der gediegeuen
Schönheit der alten Motetten und Madrigale, Klavier-
uud Orgeltokkateu, Suiteu, Präludien und Fugen ein
wenig vom Geiste der Ruhe in unsre Tonkuust ein-
zieht — kann doch gerade in der Musik wirklich echt
Empfundeues schier nimmer veralten, weil es in dieser
Kunst mehr losgelöst ist von veränderlichem Stoff-
licheu, als in irgeud eiuer andern. Aus den uordischen,
slavischen uud neucren italienischen Tonwerken dagegen,
die mit Recht unsre Aufmerksamkeit jetzt iu Anspruch
nehmen, dürfte doch der deutsche Geist gesunde An-
regungen zur Weitereutwicklung einer bodenwüchsigen
Musik wohl schwerlich gewinneu können.

(Der Malerei, sslastik und Archiiekiur behandelnde Schluß dieses „Überblicks" folgt im nächsten ffefte.)

DLcdtung.

* Scböue Ltteratur. V.

Die Anarchisten. Kulturgemälde aus dem Ende
des 19. Jährhuuderts von John Henry Mackay. (Zürich,
F. Schabelitz.)

Der durch seine Lyrik bekannte Verfasser erhebt einen
doppelten Anspruch: einmal ein Kunstwerk geschaffen und
sodann die Arbeit eines sorschenden Denkers geleistet zu
haben. Meines Erachtens ist ihm weder das Eine noch das
Andere gelungen. Für ein Werk künstlerischer Gestaltungs-
krast ist die ganze Komposition denn doch zu dürftig und an-
fängerhast: wir sehen uns ununterbrochen gezwungen, die
beiden Hauptpersonen anf ihren Spaziergängen zu begleiten
und ihre selbstgesälligen Reden anznhören. Vor allem aber:
nicht Menschen, leb endig e Menschen werden uns vorgeführt,
sondern abstrakte Gebilde, die nur als Träger theoretischer
Gedankenreihen zu dienen haben. Besser schon versteht es der
Verfasser, Dinge und sinnensällige Geschehnisse zu
anschaulicher Darstellung zu bringen. Die Schilderungen aus
dem Leben der Arbeitslosen, der Ereignisse auf dem Trafalgar
Square, des entsetzlichen Jammers der Elenden Londons sind
nicht unwert, gelesen zu werden; doch sind sie weder dem
Stoffe nach durchweg neu, noch in der Form irgendwie be-
deutend. Von dem Leben und Treiben, dem Fühlen und
Denken derjenigen Anarchisten, die die Mehrzahl als solche
bezeichnet, erfahren wir so gut wie nichts. Und doch wäre
es wahrhastig eine eines Künstlers nicht unwürdige Ausgabe,
auch diese Erscheinungen des modernen Lebens, welche die
meisten nur durch entrüstete Schimpfereien abzuthun pflegen,
begreiflich und menschlich erklärlich erscheinen zu lassen, selbst
in ihren gröbsten und rohesten Formen.

Nüher sührt uns der Verfasser eigentltch nur zwei
Typen, ich darf wohl sagen: „edle" Typen vor: den
t'ommunistischen Utopien nachjagenden warmherzigen Gefühls-
anarchisten Trupp, der im Überschwange seines Hasses gegen
die bestehenden Verhültnisse sich für die terroristische „Pro-
paganda der That" begeistert, und den überlegenen Jndividua-
listen und „Egoisten" Carrard Auban, den Bersechter

Mundscbau.

Proudhonscher und Stirnerscher Gedanken, den Fanatiker der
Freiheit, der alle Gewalt verwirst und lediglich durch defen-
sives Verhalten zum Ziele glaubt gelangen zu können. Nnr
der letztere ist der Verkündiger der Theorien des Verfassers.
Für sie allein nimmt er das Wort „Anarchismus" in Anspruch
— obgleich es in Wirklichkeit der Vertreter dieser Art
Anarchie nur eine verschwindende Zahl giebt. Es sind das,
wie er sagt, nur einige „Denker des Jndividualismus, welche
seine Philosophie anzuwenden konsequent genug waren," serner
„einige kühne, bedentende und völlig unabhängig von jeder
Zeitströmung denkende Menschen" in Boston, wo auch der
Anarchismus dieser Art sein erstes nnd einziges Organ gesunden
hat, endlich noch einige vereinzelte und überall hin verstreute
Schüler Proudhons. Alle übrigen sind nach Mackay keine
Anarchisten. Natürlich kann eine solche willkürliche Begriffs-
bestimmung nicht verhindern, daß alle Welt Männer wie
Bakunin oder Johann Most, Anhünger der „Pittsburger
Proklamation" oder der New-Porker „Freiheit", und selbst
Jndividuen wie die Reinsdorf oder die Stellmacher und
Kammerer nach wie vor Anarchisten nennll Wenn Mackay
seinen Helden sagen läßt: „Das Wort Anarchie bezeichnet
haarscharf, was wir wollen; seig und unklug wäre es, dasselbe
um der Schwächlinge willen sallen zu lassen" — so beweist er
mit diesen Worten nur, daß er weniger auf die Sache als
auf Äußerlichkeiten Wert legt. Seit wann ist denn der
etymologische Sinn eines Wortes sür den erst später dnrch
den Gebrauch fixirten Begriffsinhalt dieses Wortes maßgebend?
Wäre dies der Fall, so könnten sich die hier in Rede stehen-
den Anarchisten ebenso gut „Orthodoxe" nennen. Dies Wort
heißt wörtlich übersetzt „Richtigdenkende", und ich bin über-
zeugt, daß Mackay solch eine „haarscharfe" Kennzeichnung anch
sür seine Spielart von Anarchisten in Anspruch nimmt.

Sehr bedanerlich ist es, daß der Leser in das Wesen
dieses eigentlichen Anarchismns uur sehr ungenügend eingeführt
wird. Die Anssührung Stirnerscher Gedanken und ihre An-
wendung auf die Gesellschast ist überaus dürstig. Würde der
Versasser auf ätlen 368 Seiten seines Werkes eine systematische
 
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