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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

DOI issue:
Heft 23 (1. Septemberheft 1893)
DOI article:
Tritonus: Zur "Überwindung" Wagners
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0361

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schaften, ain geeignetsten sind, den sehr eigentümlichen Voraus-
setzungen der Oper, des Musikdramas zu genügen. Daß
aber aus den alten Sagen mit ihrer Mannigfaltigkeit auch
an seelischen Motiveu so häufig solche gewählt werden, deren
Aiotive sich den Wagnerschen aunäheru, das Leweist auch
hier, daß diese neuen Kunststerne keine eigenen Sonnen sind,
sondern nur Planeten um die Sonne Wagner. Viel mehr uoch
tritt dies bei der Ausgestaltuug, der tonkünstlerischen Technik
hervor. Auch da, wo unbeschadet der Jnnehaltung aller
eigentlichen Wagnerschen Prinzipien, sehr wohl eine anders-
artige Technik möglich, ja oft geboten wäre, wird nach-
ahmerisch gearbeitet. Die künstlerische Persönlichkeit Wagners
beeiuflußt sie ebeu auch hierin stärker, als die von ihm auf-
gestellten Grundsätze es thun.

Das wird uns am klarsten, wo wir ganz „Wagnerische"
Opern hören, und doch augenfälligeu Mißverständnissen
theoretischer Aussührungen Wagners begegnen. Kaum
jemals vorher dürsten Mißverständnisse, wie sie hier unter-
laufen können, greller und bezeichnender zu Tage getreten
seiu, als kürzlich in München gelegentlich der Aufführung
des Erstlingswerkes eines jungen norwegischen Musikers,
des „Hochzeitsmorgens" von Schjelderup. Dieses einaktige
Musikdrama, vom Komponisten als „Nordländisches Jdyll"
bezeichuct, deckt mit besouderer Deutlichkeit die Gefahren
der Wagnernachahmung ohne eigenen Halt aus. Wir sehen
hier an einem Beispiele für viele, wie z. B. die Nach-
ahmung und durchgeheude Verwenduug des Leitmotivs leicht
zur Folge haben kann, daß überhaupt eigentliche Melodik
nicht mehr zum Vorschein kommt, dafür aber abgerissene,
verzettelte Motive und Motivchen. So kommeu eben die
Nachahmer des konstanten Leitmotivs und der „uneudlicheu
Melodie" dahin, überhaupt keiue Melodie mehr erfinden
und auwenden zu können; sie verschmähen es schon aus
Augst vor jeder musikalischen Geschlossenheit uud Abrundung,
in dem Glauben, Aussprüche Wagners, wie diesen, streng
befolgen zu müsfen: „Jn des Dichters Drama giebt es
keine nacheinander solgenden, sich jedesmal abschließenden
Partien; die dramatische Handluug muß immer vorwärts
eilen und kann ihre Flucht nicht aufhalten, um kleiuere,
abgefchlosfene Abteilungen zu bilden". Wagners eigenes
Schaffeu besagt, wie weit dieser Satz ohue Übertretung
befolgt werden kann. Seine Nachahmer verstehen ihn so,
wie ihn der Meister uie selber angewandt hat; sie über-
wagneru Wagner oft genug durch Auflösuug auch der
Zusammeuhänge, uicht nur der geschlvssenen
Formen — das aber ist doch zweierlei.

Sodann weist gerade diese neueste Wagneroper noch
besonders auf eiu anderes typisches Mißverständnis hin.
Wir meinen das oft so augenfällige Mißverhältnis zwischen
dem jeweiligeu dramatischen Zweck und den dazu aufge-
boteuen musikalischen Ausdrucksmitteln. Da sind denn
wohl im Orchester alle Hebel iu lärmeuder Bewegung,
wenn oben auf den Brettern die harmlosesten Dinge vor
-

sich gehen. Wie viel wird gerade in diesem Punkt
gesündigt! Und gesündigt trotz aller uachdrücklichen War-
nungen Waguers selber, schreibt er doch z. B. in dem
Aufsatze „Über die Anwendung der Musik auf das Drama":
„Wer bis dahin durch Anhörungen unserer neuesten,
romantisch-klassischen Jnstrumentalmusik ausgebildet ist, deni
möchte ich, so bald er es mit der dramatischen Musik
versuchen will, vor allem raten, uicht auf harmonische und
instrumentale Effekte auszugehen, sondern zu jeder Wirkung
dieser Art erst eiue hiulängliche Ursache abzuwarten, da die
Effekte sonst nicht wirken".

Wagner hat, wie gegenwärtig wohl niemand mehr
bestreitet, das Problem der Oper, so weit es überhaupt
lösbar ist, gelöst. Er hat, so weit es möglich war, eine
organische Übereinstimmung zwischen Wort und Ton im
Musikdrama mit genialer Kraft durchgeführt. Er hat das
Musikdrama bis an die Grenzen der Vollenduug gebracht,
so daß in dieser Form über seinen, in der möglichsten
Übereinstimmung der dramatischen und mufikalischen Tendenz
wurzeluden Stil uiemand hinaus kaun. Wagner ging in
der Befolgung seiner Prinzipieu bis zur äußersten Grenze
und scheute nicht die heikelsten Konsequenzen. Möglich auch,
daß er manchmal die Grenzen des im Musikdrama über-
haupt Darstellbaren überschritt.

Wir könneu nicht wissen, wie nach dem krastvollen
Stoß, den sie durch Wagner erhalten hat, die Musik-
entwickelung weitergehen wird. Das aber wissen wir,
daß nur dadurch überhaupt eine Weiterentwickelung vor
sich gehen kann, daß wieder Persönlichkeiten als die
wichtigsten Träger aller Kunstentwicklung kommen müssen,
Persönlichkeiten, die als solche frei sind und sich selber
zeigen. Kunst und Persönlichkeit haben ja immer Eius zu
sein. Bei Wagner war es so. Seine Persönlichkeit steht
in seinen Tonschöpsungeu groß und abgeschlosfen da: durch
ihre Nachahmuug wäre fo wenig eine Originalkunst zu
erreichen, wie durch irgend eiue Nachahmung sonst.
Persönlichkeiten sind Eins, Kunstgesetze sind ein Zweites.
Auf den von Wagner formulirten Kunstwahrheiten weiter-
zubauen, ist nicht uur möglich, sondern in vieler Be-
ziehung erforderlich. Es handelt sich also darum, daß
uusre juugen Komponisten diese Kuustwahrheiten selber
nachprüfeu auf etwaige Jrrschlüsse, sie immer tiefer zu
erfasfen, sie mit andern Kuustwahrheiten und Kunst-
erfahrungen zu verbinden suchen, mit denen sie noch nicht
in Beziehung gesetzt sind, sie auwenden auf Stoffe, Ge-
danken, Empfindungen, auf die sie von Wagner noch nicht
oder vielleicht falsch angewandt worden sind, und dann
das fo gewonnene feste Ergebnis völlig frei mit eigner
künstlerischer Persönlichkeit verwerten.

Wenn sie eine solche haben. Persönlichkeiten lassen
sich nicht schaffen, sie müssen kommen. Aber wir können
dazu thun, daß sie verkümmern oder daß sie sich entfalten.
Die jetzigen Wagnernachahmer gleichen in mancher Be-

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