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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1892)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0091

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Geist und Phmilasie, lebt mil ihrer mlS der .üuospe eben er
bluhenden Tochter, und sie sühlt sich in ihrem Gotte sicher,
ruhig und klar, alS ein edler junger Mann in ihr Hans tritt,
ihre Tochter liebt nnd von dieser geliebt wird. Ta erwachen
in der Mutter Leidenschaften, die sie noch nicht gekannt hat, sie
fühlt die Tochter als ihre Nebenbnhlerin und „fallt in eine
wilde Ursprünglichkeit zurück, die mit Gewaltthat und Raserei
endet". Es „bricht der ganze künstlich ausgebaute GesellschafS-
kreis" vor dem-Bransen der Leidenschaft zusammen. Mit tiefer
Tragik sollte das Werk schließen, von dessen Weiterleben in der
Ltirn des Dichters eine Reihe kurzer Notizcn sehr lehrreich
sprechen. Aber ich glaube nach dem Vorliegenden doch nicht,
daß sich das Bruchstück noch heute für die Bühne retten ließe.
„Ein Strom von Poesie flutet durch Leide Aufzüge", sagt
Vächtold. Anch ich spüre ihn wohl, wenn ich dem innern
Schann, dem Wollen Kellers hier nachgehe. Aber in der Ans-
führung erkenne ich den Keller der besten Zeit nur bei einigen
Lichtern wieder. Daß ich's offen gestehe: ich kann mich gerade
bei diescm Fragmente des Eindrucks nicht erwehren, daß auch
Kellers Begabung eben doch der Dramatik fern lag.

„Eine freudige Überraschung steht den Verehrern Gottfried
Kellers noch bevor: es sind die ganz imvergleichlichen Briefe und
die Tagebuchfragmente, welchc - eine fortlaufende Biographie
- demnächst in zwei Bänden crscheinen werden." Mit dieser
Mitteilung aus dem Vorwort will ich unsre Anzeige schließen.

Baumeister Solneß. Schauspiel in drei Aufzügen
von Heurik Jbsen, deutsch von Sigurd Jbsen. (t,so M.,
Berlin, S. Fischer).

Mit diesem neucn Drama legt uns Jbsen wieder einen
Haufen von Nüssen zum Knacken vor. Und es sind harte
darunter. Jch habe das Werk mit der gespanntesten Teilnahme,
aber mit sehr gemischten Empfindungcn gelesen. Das moderne
Bemühen, die Menschenseele als ein aus vielen einander wider-
strebenden Teilen zusammengesetztes Ding mit hundert feinen
Zügen aber wenigen großen Strichen zu zeichnen, hat Jbsen in
diesem Werk auf die Spitze getrieben. Es ist einer knappen Jn-
haltsskizze kaum möglich, von dieser schillernden Seelenmalerci
auch nur eine rechte Ahnung zu geben.

Da ist zunächst der Baumeister Tolneß selber. Der Manu
ist angesehen weitum im Lande als der erste seines Berufs -
das verdankt er der Rücksichtslosigkeit, mit der er sich geltend
gemacht hat. Aber er hat ein „kränkliches Gewissen". Er, der
gelegentlich höchst brntal auftrstt, um seine Stellung vor dem
„Anklopfen der Jugend" zu bewahren, die er fürchtet als die
vergettende Gerechtigkeit, er teidet doch unter dem Gefühl,
daß er seinen „Künstlerplatz" unaufhörlich aufwägen müsse mit
seinem und mit sremdem Glücke. „Jch will Jhnen sagen, wie
das Glück empfunden wird! Es wird empfnnden wie eine große,
hautlose Stelle hier auf der Brust. Und die Helfer nnd Diener
nehmen Hautsetzen von anderen Menschen, um meine Wunden
zu schtießen." Er getraut sich denu auch nicht immer dns zu
thun, wozu ihn sein Ergeiz drängt. Er denkt nur viel
daran, er wünscht es uur. Aber: es hat sich in ihm zufolge
verschiedener Ereignisse und Beobachtungen und besonders zu-
folge des außerordentlichen Einflusses, den sein Wille auf andere
ausübt, die er zu „Helferu und Dienern" macht — es hat sich
iu ihm der Glaube ausgebildet, sein Denken und Wünschen
übertrage sich auf irgeud eine geheimnisvolle Weise und ver-
wirkliche sich. Tritt also etwas von ihm lebhaft Gewünschtes
ein, so empfiudet er das als seine That, für dic er verant-
wortlich ist. So bei einem Hauptereignis seincs LebenS. Er
hat nämlich lange dic Sehnsucht gehabt, „Heimstätten für
Meuschen" zu baueu, aber wie hätte er dazu kommen können,
aus diesem Gebiet noch ein unbekannter Mann? Auf eine

Weise giug cs au. Da staud uämlich eiu großes Haus, das
Elternhaus seiner Frau, die es über alles liebte, in einem
weiten Park. Wenn es abbrennte, ja, dann könnte der Park
zn Baustücken parzetlirt, und auf diesem eigenen Grund und
Boden könnten Villen erbaut werden ganz nach eigenem Plane,
den Leuten zu zeigen, was Baumeister Solneß verstehe, und
ihn Lerühmt zn machen. Eine Ritze war im Schornstein,
Solneß kannte sie, aber von Tag zu Tag versäumte er, sie zu
schließen. Nnd ein Brand brach aus, legte das Gebände nieder,
erschloß dem Baumeister die Zukunft. Er Lrach nicht durch
jenen Schornstein aus, ganz anderswo, aber Solneß empfindet
die Folgen doch als feine That, weil er Len Brand gewünscht
hat. Und somit anch, daß in mittelbarer Folge des Brandes
seine Zwillinge starben und so das Lebensglück fciner Frau
zerstört ward, die auch „Anlagen zum Bauen" hatte, zum Auf-
bauen von Kinderseelen zu geraden Menschenseelen. Solneß
leidet also auch unter einem ungehenren Schuldbewußtsein
gegen seine Frau. Er fühlt, daß etwas wie Wahnsinn kommt.
Aber das beeinflußt nnr scin Denken, sein Handeln be-
stimnit doch immer der Drang, nm jeden Preis der Erste z»
bleiben, und es bleibt rücksichtslos selbstsüchtig.

Nun tritt in sein Leben Hilde Wangel, der mittlerweilc
herangewachsene frühere Backsisch aus der „Fran vom Meer".
Heut vor zehn Jahren hat Solneß droben in ihrer Heimat, in
Lhsanger, einen Kirchturm gebaut und, freistehend in schwin-
delnder Höhe, anf den Wetterhahn felber den Kranz gehängt.
Das hat anf das Mädchen einen unauslöschlichen Eindruck ge-
macht. Und dann, als der Baumeister Abeuds bei ihreu
Eltern war, da hat er ihr gesagt: sie sei seine Prinzessiu, uud
in zehn Jahren käm er wieder, wie ein Unhold, und entführe
sie iu ein Königreich, und er hat sie dabei geküßt. Das hat
nun auf Hilde wie eine übermächtige Suggestion gewirkt und
ihr ganzes Leben beherrscht bis jetzt, wo sie zu Solneß tritt,
ihr „Königreich" zu fordern, — nicht gerade ein Kinder-
Königreich Apfelsinia zwar, aber etwas Großes, Ungemeines,
Herrliches, wie es von allen Müneru nur der ihr verschaffen
kaun, den all ihre Trüume umgoldet habeu. Solneß begrüßr
in ihr die verwandte Seele, den ersten Menschen, der ihn
verstehen, zu dem er sich aussprechen kanu. Jhr erschließt er
sich ganz. Und sie will ihn zu dem niachen, was er ihreu
Phantasieen ist — und sie kann es vielleicht, deun sie kann
ih n beeinflussen: der Witlcnszwinger gegen Andere ist Diener
ihres Willeus geworden. Der Baumeister hat ein neues Haus
mit eiuem hohen Turm für sich erbaut, das soll jetzt
eingeweiht werden. Hilde verspottet ihn, bittet ihn, bestinimt
ihn, noch einmal den Kranz selber nm die Turmspitze zu hängen.
Wenn er wieder hoch oben steht, „hoch und frei", daun wird
er sie ertrotzen von Gott, und sie in der Tiefe wird es hören
„wie leisen Harfengesang" und wird sein eigen sein für immer.
Uud er selber steigt auf der Leiter, klettert zur Spitze, steht
„hoch und frei" — da bricht Hilde drunten in Jubel aus:
„Es lebe der Baumeister Solneß!" Und bei dem Rufe stürzt
Solneß zu Tod. „Hilde (wie in stillem, irrem Triumph):
Aber bis zur Spitze kam er. Und ich hörte Harfen hoch
obeu. (Schwenkt den Shawl aufwärts und schreit mit wilder
Jnnigkeit:) Mcin, — mcin Banmcister!"

Von den Nebenpersonen kann ich nicht eben so eingehend
sprechen, auch den Gang der Handlung habe ich nicht zu ver-
folgen — die Hauptsache ist ja auch im Stücke die Darstellllng
Hildes und Les Baumeisters. Schon aus meiner Skizze werden
die Leser ersehen, wie nahe beide Charaktere an das Patho-
logische streifen. Dann nnd wann schreiten sie sogar unzweifel-
haft mitten durch das Gebiet der Geisteskrankheiten hin. Und
außer diesem kommt Mystisches vor, ja, unmittelbar Wunder-
 
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