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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 9 (1. Februarheft 1893)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0145

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seiner Untersuchungen, sondern nur eine Vertiefung ihres Zu-
sammenhangs und ihrer Tragweitc. Um so besser, wenn es
ihm gelungen ist, neue Gesichtspunkte zu erösfnen und zur
Beantwortung notwendiger Fragen der „Metaphysik des
Schönen" nicht zu übersehende Beiträge zu leisten.

Der schwierigste und umstrittenste Punkt Ler Äslhetik
liegt offenbar da, wo — ich will mich in landläufiger Rede
ausdrücken — die Kunstwerke schön gesunden werden, ohne
daß sich dafür herkömmlich als seststehend betrachtete Gründe
der Schönempfindung auszeigen ließen, ja im Widerspruch mit
solchen: bei der Darstellung gleichgiltiger, höchst individueller
oder gar an sich unschöner Gegenstände. Jch sehe dabei ab
von jeder etwa durch malerische Anordnung, Farbe oder dergl.
bewirkten Aufhebung des Unschönen. Man könnte dieses
ästhetische Wohlgefallen vielleicht aus die Wahrheit der Dar-
stellung zurücksühren; Ed. von Hartmann hat neuerlich die
Lehre der srüheren philosophischen Ästhetik, daß das Gattungs-
müßige das Schöne sei, über Bord geworfen und die Jndividual-
Jdee als deu eigentlichen Gegenstand der Kunst bezeichnet;
Karl Groos schlägt einen anderen Weg ein, der, mit gleicher
Bestimmtheit wenigstens, noch nicht betreten worden ist.

Es darf nachgerade als ausgemacht gelten, daß der Be-
griff des „ästhetischen Scheins" ein grundlegender ist fiir die
Ästhetik. Hartmann hat ihn an die Spitze seines ganzen
Systems gestellt, indem er ihn als den Träger des Schönen,
wohlgemerkt nicht als das Schöne selbst, bezeichnet. Es läge
nun nahe, der Schwierigkeit dadurch beikommen zu wollen,
daß man allein in der Scheinhaftigkeit der ästhetischen Be-
trachtung das Schöne suchte. Jndessen läßt sich leicht ein-
sehen, daß dies ein Jrrtum würe.

Karl Groos geht ebenfalls vom ästhetischen Scheine aus.
Er gelangt aus psychologischem Wege zu diesem Grundbegriff.
Jch will schon hier erklären, daß ich es nicht als die Aus-
gabe dieser Zeilen betrachte, dem Verfasser überall nachzugehen.
Es genüge, daß er, nachdem er das Grundprinzip seiner
ästhetischen Ansicht gefunden hat, die„ästhetischenModifikationen"
des Schöncn, des Häßlichen, des Erhabenen, des Tragischen
und Komischen mit ebensoviel Klarheit wie tiefem poetischem
Empfinden dazu in Beziehung setzt und erörtert; daß er sich
ebensoweit entfernt hält von unnötigem metaphysischem Ballast
wie von unwissenschastlichem Gerede; daß er endlich auch da
stets Jnteresse erweckt, wo man seiner Ansicht nicht beipflichtet.
Jch will hier nur denjenigen Punkt hervorheben, wo der Ver-
fasser selbst das eigentliche Verdienst seines Werkes erblickt,
und wo er auch unzweifelhaft das höchste Jnteresse beanspruchen
darf, bei seiner eigentümlichen Auflösung des oben bezeichneten
Widerspruchs im Schönen. Diese besteht darin, daß er nicht
etwa in der Scheinhaftigkeit das Schöne sieht, sondern das
üsthetisch Wirksame von dem Schönen unterscheidet und dem
Schönen nur eine Provinz des üsthetischen Genusses zuweist.
Mau sieht sosort, daß dies ein Weg ist, der, gleichviel, ob er
zuni Ziele führt oder nicht, einmal eingeschlagen und deutlich
abgegrenzt werden mußte.

Die ästhetische Wirkung an sich ist nun aber damil noch
nicht bestimmt; der Versasser leitet sie ab aus dem ästhetischen
Schein, welchen er von dem blos zufülligen Schein unterscheidet
als denjenigen, der unser Bewußtsein mit einer gewissen Dauer
beherrscht, derart, daß er nicht mehr blos unser Zustand ist,
sondern „unsere That" (Schiller). Die That geschieht ver-
möge der Einbildungskraft, die sich von dem äußeren Gegen-
stand ein inneres Bild ablöst. Diese „innere Nachahmung",
das „edelste Spiel" des Menschen, bildet den Kern alles
ästhetischen Genießens; sie schließt also die reale Lust am
Schönen in sich. Wie sruchtbar dieser Begriff ist, erweist sich

z. B. dadurch, daß er nichl nur die Möglichkeit lustvoller Ver-
senkungen in das Bild des Schmerzens und Leidens ausreichend
erklärt, sondern daß er auch die besondere Kraft und Tiese
dieser Form des ästhetischen Genusses erklärt. Die eigentliche
Kraft der inneren Nachahmung, durch welche sich ihre Aktivitäi
bethätigt im Gegensatz zur zufälligen Erscheinung, bezeichnet
Groos nach Siebeck als eine Personifizirung, eine beseelende
Verwandlung des angeschauten Gegenstands, welche auf Grund
der allgemeinen Anlage der Sinnesthätigkeit, sich selbst, das
Subjekt, in das Objekt zu projiziren, vor sich geht. Ohne
Groos den Vorwurs zu machcn, daß er sich hier auf den Weg
des Mysteriösen begeben habe, muß ich doch sagen, daß mir
diese Erörterung wenig fruchtbar erscheint. Näher hätte hier
sosort die Frage gelegen, was nun an den Kunstwerken das
eigentlich ästhetisch Wirksame sei, und die Antwort, daß sie
durch Wahrheit und Deutlichkeit die subjektive Nachahmnng
möglichst begünstigen, d. i. die Anerkennung des Kunstprinzipes
des Realismus. Die „Verbauerung" der Natur durch Hebel
(Goethe), die „Verritterung" derselben durch Wolfram von
Eschenbach (W. Scherer) sind Ergebnisse der subjektiven Stili-
sirung und als solche von kunstgeschichtlichem und ästhetischem
Jnteresse; aber notwendigc Folgen des künstlerischen Ver-
haltens sollen sie gerade nicht sein. Jch muß sogleich hinzu
fügen, daß es in der Konsequenz des Groosschen Gedanken-
ganges liegt, die eigentliche That der Kunst darin zu erblickeu,
daß sie Erscheinungen der wirklichen Welt aus dieser heraus-
hebt in der Weise, daß das Spiel der subjektiven Nachahmung
durch sie erst ermöglicht und die Phantasie auf die üsthetischen
Momente hingewiesen wird, wie es die Wirklichkeit selbst nicht
vermöchte; und diese Eigenschast der Kunstwerke sowie die
Freude an der Meisterschast der künstlerischen Produktion durch
die subjektive Nachschöpsung hat Groos (S. 181 ff.) betont und
sehr gut erörtert. Eine prinzipielle Stellung hat er dem
Realismus, wie gesagt, nicht angewiesen, aber dessen Geltung
im Gegensatz zum Naturalismus, dem bloßen Abschreiben der
Natur mit allen Nebensächlichkeiten, mehrfach anerkannt. So
insbesondere in den Abhandlungen über das Typische und das
Jndividuelle, welche sich durch Klarheit und Einfachheit aus-
zeichnen und in welchen er zu dem Beweise gelangt, daß beide
Merkmale sich nicht ausschließen, sondern im klassischen Kunst-
werk znsammentreffen.

Gewiß ist nun schon sehr viel gewonnen mit der Er-
kenntnis, daß ästhetische Lust möglich ist ohne Schönheit iu
eigentlichem Sinn des Worts. Von demjenigen Häßlichen,
welches durch Unterordnung in das Schöne eingeht, ist dabei
abgeschen. Allein das Postulat des Jdealismus besteht, auch
wenn es metaphysisch nicht weiter zu erweisen ist, und heischt
eine materielle Bestimmung des Schönen. Wenn der Verfasser
anerkennt, daß die höchste üsthetische Lust durch Schönheit er-
zeugt wird, so muß er dieses Postulat konsequenter Weise
doch bei Seite setzen. Er findet die ästhetische Modifikation
des Schönen mit dem Satze: „Das sinnlich Angenehme im
ästhetischen Schein ist schön" (dessen Umkehrung die Definitiou
des Häßlichen ergiebt). Es ist zuzugeben, daß Groos durch
die Unterscheidung des Ästhetischen vom Schönen die Möglich-
keit gewonnen hat, den letzteren Begriff sehr weit einzuengen.
Allein so glatt sich die Definition ansieht, so dürste sie sich
doch kaum als zulünglich erweisen. Sie umsaßt z. B. nicht
das Gesühl der Zweckniäßigkeit, durch welche uns das Organische
als schön erscheint, denn dies ist eine geistige, keine sinnlichc
Beziehung. Groos verwirft allerdings die Begründung des
Schönen im Typischen, Organischen, Charakteristischen, Zweck- !
mäßigen; m. E. mit Unrecht, wie wenigstens sür den letzteren
Begriff die Ästhetik der Architektur mit Evidenz darthut. Die

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