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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 10 (2. Februarheft 1893)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0155

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Berfasser her, sicherlich als »peinlich, unerqnicklich getadelt j
werden und die Belehrung empsangeu, daß ihr das
der Kunst uotwendige befreiende Element" fehle, ja, man
tönnte sogar den Namen »Zola« in die Kritik hincinklingen
lassen. Seltsamerweise ist aber grade diese Novelle die gehalt-
vollste nnd diejenige, bei der sich keine Einwände volkspjpcho-
logischer Art machen lassen. Eine Wirtstochter liebt ihr
Stiesbrüderchen, das ein Kretin ist, mit höchster Zürtlichkeit.
Sie wird von dem jungen Dorfarzt geliebt, der sie heiraten will,
wenn der blödsinnige Knabe in eine Anstalt gebracht ivird.
Das Mädchen kann sich dazu nicht entschließen. Aaverl wird
krank, und der Arzt beseitigt das Kind durch Morphinin.
Das Mädchen schöpst Verdacht nnd erhält auch später das
Geständnis des Arztes. Gleichwohl ergiebt sie sich ihm in
einer unentrinnbaren Wallung, nnd das rächende Schicksal
strast ihre Schuld mit einem taubstummen Mädchen. Nebenbei
bemerkt ist der Vater des blöden Xaverl ein Säuser. Man
sieht, daß in diesem Stofse Paul Heyse gar nicht so weit ent
fernt von den ihm so viel Zorn crweckenden Modernen ist,
als er selber glaubt. Die erste Novelle Vroni« erzählt uns
von einer lieblichen Dorfschönen, mit der ein hübscher junger
Niann anbandelt« : Verhültnisse halber heiratet sie eincn
hüßlichen alten Bahnwärter. Der junge Mann tritt ihr als
einer Frau wieder entgegen, und sie entflieht der mächtigen
Versuchung, indcm sie sich von dem vorüberbrausenden Zug
übersahren läßt. Die prachtvoll erzählte Gcschichte segelt sür
die örtlichen Verhältnisse zu sehr im empsindsamen Fahrwasser.
Grade Ehebrnch nnd Selbstmord sind zwei Dinge, über die
die von Heyse geschildcrte Landbevölkerung ihre besondere
Denkweise hat. So leichtlebig die Mädchen sind, eine so
kräftige Scheu haben die Frauen aus alten Rechtsanschannngen
heraus vor dem Ehebruche. Noch größer aber ist die religiöse
Icheu vor dem Selbstmorde. Broni würdc wahrschcinlich der
zweite Annäherungsversuch des jungen Mannes mit einer
Entrüstung ersüllt haben, die gar keinc Versuchung ans-
kommen ließ, eher aber brach sie die Ehe, was sic in der
Beichte sühnen konnte, als sich durch einen Selbstmord unrett-
bar dem Teusel zu überantworten. Eine reizende Erzählung
ist Dorsromanlik. Der schwärmerische junge Lehrer liebt
ein brustleidendes Müdchen, dessen ältere, krästig schöne
Schtvefter in ihn verliebt ist. Das Mädchen stirbt als Brant,
der Lehrer erhält wegen verdächtiger Gesinnnng eine Straf-
versetzung. Die schöne Verliebte drängt sich ihm verführerisch
auf und will mit ihm ziehen. Er wcist sie zurück, nnd sie
beißt ihn znm Abschied in die Lippen, damit er ihrer nie
vergessen könne. Jm Marienkind«, einer in höhcren Ständen
spielenden Geschichte, kennzeichnet Heyse ganz vortrefslich ein
im Bann der Kloster-Erziehung stehendes junges Müdchen,
und es hütte sich verlohnt, Lieses Thema weiter auszuspinneu
und namentlich äuch die nnr leicht berührte Französelei, die
in solchen Nonnen-Anstalten herrscht und die jungen Mädchen
Leutschen Gedankenkreisen fast völlig cntzieht, mehr zn geißeln.
Statt dessen bcfaßt sich hier Heyse vor allem mit einer Polcmik
gegen moderne Malerei, in der er wieder, wie im Roman
»Merlin , recht unglücklich ist, weil er offenbar die bestehenden
Berhältnisse nicht näher kennt. Ein Maler, der erst »Häßlich-
keitsmaler- war, kehrt in Jtalien zur Schönheit zurück und
wird insolge dessen von den Mitstrebenden als Renegat miß-
achtet und beiseite geschoben. Eine solche Entwicklnng ent-
behrt jeder innern Wahrscheinlichkeit, nud Heyse verkennt die
moderne Kunstentwicklung, indem er die Malweise nnd den
Gegenstand der Malerei miteinander verwechselt. Es ist
psychologisch nicht wahrscheinlich, daß ein geschickter Freilicht-
maler zu der alten Malw eise znrückkehrc, denn grade die

malerische Handschrist änderr ein talentvoller Künstler nicht
so leicht in ihr völliges Gegenteil, weil in ihr die ganze Art !
des sinnlichen Sehens sich ausprägt. Dagegen ist es sehr
wohl möglich, daß ein solcher Maler sich schönern, gefälliger»
Stoffen zuwendet. Thut er dies nun in der modernen
Malweise, so werden ihn die Genossen nie und nimmer misst
achten, denn einer der Hauptgrundsätze dieser modernen
Künstler geht dahin, für den Gegenstand die weiteste Freiheit
zu belassen, wenn nur die Malweise, die Art des sinnlichen
Ausdrucks, den modernen Ansichten entspricht. Heyse kann
sich ja in München sehr leicht darüber belehren lassen, daß
seine Erzählung in dem, was den Maler angeht, ganz falsche
Boraussetzungen enthält."

IN c ne tekel! Eine Entdeckungsreise uach Enropa. Vo»

Arnold v. d. P a s s e r. (Erfurt, Baemeisters Verlag, 70 Ps.)

Wieder eine jener Tendenzdichtungen, in denen unser
Gesch/echt sich mit Zukunstsbildern über die Gegenwart klarer
zn werden sucht, diesmal cine aus dem Lager der Sozial
demokratie 8!MS plliase. Sie ist entstanden, um Eugen Richters
„Zukunftsbilder" mit den eigenen Waffen zu bekämpfen.

Bellamy sowohl wie seine Gegncr, so führt der Versasser
im Vorwort aus, nehnien an, daß über kurz oder lang die
kapitalistische Gesellschaft von der sozialistischen abgelöst werden
wird, nach Annahme der Gegner, um sich dann bald wieder
zu Gunsten der nun als heilbringend durch die Erfahrnng er
wiesenen kapitalistischen selber abzuwirtschafteu. „Wer hindert
nns aber anzunehmen, daß der von den Gegnern der Sozial
demokratie gewiß als sehr wünschenswert angesehene Znstand
einer gänzlich ungehinderten kapitalistischen Wirtschaft schon
srüher eintrete, nicht herbeigeführt durch die Sozialdemokratie
selbst, sondern durch die niit Erfolg gekrönten Bestrebungen
ihrer Gegner? Nehmen wir cinmal an, der Einfluß und die
Beredsamkeit des Herrn Eugen Richter sei wirklich so größ,
daß vor dem Rnnzeln seiuer Branen die Sozialdemokratie in
Staub zersallen müßte. Dann wird es selbstverständlich in
jenemMomente, den Bellamy und selbst seine Gegnerprophezeien,
keine Sozialisten mehr geben, nnd was dann eintritt das
soll eben mein Buch schildern." Es versucht das am Faden
der solgenden Geschichte.

Anno 2398 beschließen die Bewohner des blühenden Hertz-
kaschen Freilandstaates in Asrika zur Fünfhundertjahrfeier
ihrer Staatengründung eine Expedition nach Europa, von dem
sie sich bisher, um vor kapitalistischen Rückfällen sicher zu sein,
ivohl abgeschlossen gehalten haben. Aber das Weltmeer ist
leer geworden, nnd vor Hamburgs Hafen leuchtet kein Signal-
fener mehr. Ein Trümmcrseld liegt die einst so herrliche
Hansastadt vor den Augen der vorsichtig Landenden, und in
der Nacht erst komnien ans ihren Schlupfwinkeln Mensche»
herbei, halbnacktc, verwildertc, knüttelbewaffnete Gestal'ten, dic
mit Steinen nnd Feuerbränden die Freiländer angreifen.
Diese durchziehen dann das ehemalige Deutschland, jetzt eine
Wüstenei, bis nach Thüringen hin, wo sie in dem verfallenen
Weimar das verfallene Goethe-Schillerstandbild abergläubisch
verehrt finden. Die deutschen Wilden glauben, „daß die Münuer
da oben zwei Brüder ans göttlichem Geschlechte vorstellen, die
vor vielen hundert Jahren vom Himmel herabgestiegeu, um
den Menschen Las Licht zn bringen. Die Schlechtigkeit Ler
Menschen aber zwang sie, in ihre himmlische Heimat zurück
znkehren. Nun beten diese Armen zu ihnen, immer in der
Hoffnung, daß die Göttergestalten einmal wiederkehren und
ihnen das verschwundene Paradies zurückbringen." Die Ex-
pedition zieht weiter, zu den Alpen hin. Jni deutschen Urwald
von Wilden überfallen, erleidet sie eine Niederlage, bei der
einer, Knrt, an das Ufer des Ammersees versprengt wird

- t4S -
 
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