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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

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Heft 13 (1. Aprilheft 1893)
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Bilde, Künstler, rede nicht!
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https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0200

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Lrstes AprLl-Dekt LS93.

13. Ltück.

Lrscbcinl

am Anfang und in der Mitte

Derausgeber:

Ferdtnand Nvenartus.

Kesrcllprets:

vierteljährlich Mark. HAKrH.

Scbictk i>c§

Wilde, Ikrünstler, rede nickt!

s hilft alles nichts: wir müssen wieder einmal
von einer schon oft in diesen Blättern be-
sprochenen oder doch berührten Sache reden.
Von dem Unterschied zwischen Poesie und
Rhetorik. Wir müssen es thnn. Denn wir stehen fast
in der gesamten Presse allein mit unserm Hinarbeiten
auf eine strengere Unterscheidung dieser Dinge, und doch
ist sie so wichtig, daß wir nicht ruhen dürfen, eh wir ihr
etwas mehr Beachtung erarbeitet haben.

Dichtung und Redekunst, diese Schwestern, werden so
oft niiteinander verwechselt, wie keine zwei andern. Jn der
That, kennt man sie nicht genau, scheinen sie sogar mehr
als Zwillinge, scheinen fie geradezu zweimal dieselbe zu sein.
Und doch wohnen in den zwei hohen Frauen so grund-
verschiedene Seelen, daß es recht gut ist, die eine Dame nie
für die andre zu halten. Fran Redekunst wendet den Willen
nach auswärts, überzeugen will fie, daß auch die Andern
denken und handeln wie sie, bessern und bekehren will sie,
und immer steht der Andern Seele mehr als die eigene
vor ihren Augen, damit sie sehe, was in sener vorgeht und
sie schnell Leeinflussen könne im Sinne ihrer eigenen. Auch
Frau Dichtung widmet den Seelen der Andern und widmet
der ganzen Welt um sie her lebhaste Beachtung, aber
nicht, um nun zunächst „nach außen zu bewegen", sondern
vor allem, um was sie sieht und hört, inbrünstiger Teil-
nahme voll, in sich auszusaugen. Hat sie das gethan, so
schließt sie die Wimper und sieht es mit dem innern Auge
wieder aus sich hinaus als eine wiedergeborene Welt, die
aus der Welt des Wirklichen und aus der ihrer eigenen
Seele entstanden ist. Jhre Schwester redet und redet
sogleich für die Andern, sie selber bildet und bildet

zunächst für sich. Nur zunächst, allerdings, denn wenn
ihre Gebilde dastehen, daß auch die Fremden ihrer genießen
können, dann sind sie für diese neue kleine Weltstücke, und
die Genießenden können auch zum Wollen und Handeln
von ihnen angeregt werden, wie von der Außenwelt selber
und wie von den Gaben der andern Schwester, der Rede-
kunst. Dichtungen können so wirken, — nicht etwa,
daß sie es müßten. Thun sie's aber auch, so ist das
Wie dieser Wirkung doch ein grundverschiedenes von dem
Wie der entsprechenden Wirkung der Redestücke: während
diese mit Absicht den Nächsten zu bestimmen suchen, blüht
aus jenen ein Wollen oder Handeln hervor, wie etwa ein
guter Entschluß zur Hilse oder zur fröhlichen Teilnahme
aus dem Anblick von wirklichen Leiden oder Freuden
hervorblüht. Ungewollt und selbstverständlich, als ein
Naturerzeugnis.

Aus dem Anblick von Leiden und Freuden. An-
schaulichkeit, die freilich nicht bloß den Sinn des
Auges, sondern die Erinnerungsbilder aller Sinne sür
ihre Wirkungen benutzt, ist das wichtigste Kennzeichen der
Poesie, dieser Bildnerei mit Vorstellungen. Mit andern
Worten: die Phantasie ist ihr Lebenselement. Der
Welt da draußen, die ihn räumlich umgiebt, stellt der
Dichter eine zweite Welt gegenüber, die er durch seine
eigene Phantasie für die Vorstellungskraft der Andern so
verkörperlicht, daß fie auch für jene wie ein wirkliches
Dasein erscheint. Gelingt ihm das nicht, so werden sie
ja nicht zwingend überzeugt vom Dasein des dichterischen
Stückes Welt, so ist die Dichtung, so zu sagen, Dichtung
nur für den Verfasser selber. Nicht etwa, daß der Poet
schildern müßte. Aus einer wissenschaftlichen Beschreibung

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