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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 6.1892-1893

DOI issue:
Heft 22 (2. Augustheft 1893
DOI article:
Dresdner, Albert: Das "Moderne" im Drama: zur Verständigung
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.11727#0348

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Wenn nun die gegenwärtige Bewegung des Dramas ^
in gewissem Sinne sich unter dem Zeichen Shakespeares
vollzieht, so dars dies doch nicht so verstanden werden,
als handle es sich einfach um eine Rückkehr zu Shakespearc.
Eine Welt trennt unsere Anschauungen von denen des Briten.
Shakespeares Charaktere wachsen ganz allein aus sich heraus,
sie stehen in Vereinsamung und Vereinzelung. Jn trotziger
Selbständigkeit laden sie die ungeheuerste Verantwortlichkeit
auf ihre Schultern, um zn siegen oder ihr zn erliegen.
Sie sind Übermenschen und handeln übermenschlich; die
Gestalten des modernen Dramas sind Menschen und
handeln menschlich. Unserem Bewußtsein hat sich die An-
schauung, daß auch der Mensch von materiellen und
geistigen Bedingungen abhängig sei, fest eingeprägt. Wir
können ihn nicht mehr als Einzelgröße betrachten, wir be-
greifen auch ihn als ein organisches Erzeugnis in dieser
Welt und im Zusammenhange mit dieser Welt. Jndem
wir ihn von den Voraussetzungen abhängig machen, in
denen er wurzelt, stempeln wir ihn nicht zu einem llorrime
maclliire, entlasten wir ihn nicht der sittlichen Verant-
wortlichkeit, sondern begrenzen nur den Kreis seiner freien
Bethätigung enger und dadurch klarer und fester, sichern
ihm statt erschreckter Bewunderung und ängstlichen Aufblicks
liebe- und verständnisvolle Teilnahme. War Shakespeares
Dichtung der Ausdruck eines schrankenlosen Jndividualismus,
so spricht aus unserem Drama der Geist einer Gesellschaft,
die sich den Gefahren eines fessellosen Jndividualismus
gegenüber sieht und an der Aufgabe arbeitet, durch Beein-
flussung eben jener Grundbedingungen der persönlichen Frei-
heit Maß und Zucht zu geben. Künstlerisch drückt sich
diese Eigentümlichkeit in dem aus, was man kurzweg die
Schilderung des Milieus nennt. Auf den materiellen
Voraussetzungen, auf der geistigen und sittlichen Atmos-
phäre seiner Umgebung, auf der ganzen Stimmung seines
Lebens baut sich das Verständnis des Menschen auf. Der
Charakter des Helden ist bei Shakespeare wie im modernen
Drama der Angelpunkt der Vorgänge; aber bei jenem
wird er vorausgesetzt, in diesem erklärt, und der Anstoß
zur Handlung erfolgt bei Shakespeare fast immer durch
die Einwirkung von Personen, durch die Hexen oder den
Geist im „Hamlet" oder Jago, während er im modernen
Drama vor Allem im Zwange der Verhältnisse liegt. Bei
Shakespeare setzt die Handlung gewöhnlich mit einem Ruck
ein; im modernen Drama hebt sie langsam an. Shake-
speare liebt, wie die englischen Dramatiker überhaupt, die
gewaltigsten Dimensionen, den heroischen Stil, die außer-
ordentlichste That; das moderne Drama sucht seine Stärke
vielmehr in der menschlichen Darstellung des intimen Seelen-
lebens.

Unter diesem Gesichtspunkte wird man wohl die gegen-
wärtig so häufig auftretende Stimmungsschilderung im
Bühnenstücke verstehen und würdigen können. Man hat
aus die Kleinmalerei dieser Schilderung hingewiesen und

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auf ihr den Vorwurf begründet, daß das moderne Drama
seiner Natur nach kleinlich sei und der Monumentalität
entbehre. Aber durch kleine Züge enthüllen sich auch bei
Shakespeare die Charaktere; und ob die Stimmungs-
schildernng kleinlich sei, das hängt nur von der Persönlich-
lichkeit des Dichters ab. Kleinmalerei braucht keiueswegs
kleinliche Malerei zu sein. Wenn in den „Webern" mitten
in einer herrischen Strafpredigt des Fabrikanten eine Weber-
frau herantritt, um ihm mit Worten: „Der Herr Dreßiger
haben sich a Brünkel angestrichen" in sklavischer Demut
ein Federchen vom Rocke abzunehmen, so ist das ein kleiner
Zug, den sicherlich Niemand kleinlich schelten darf. Es ist
ferner zu bedenken, daß sich das moderne Drama zuerst
an Stoffe unserer Zeit hielt, um sich hieran seine Technik
zu bilden, und daß es da natürlich zunächst meistens
kopirte und mit peinlicher Gewissenhaftigkeit nachbildete.
Aber sobald es seiner Technik sicher ist — und dieser
Zeitpunkt ist nahe, wenn er nicht vielleicht sogar schon
eingetreten ist —, wird es sich zweifellos an Gegenständen
anderer Stofflagen versuchen, zn denen es einen freieren
Ausblick hat, bei denen es in größerem Stile arbeiten kann.
Denn, wie bemerkt, das moderne Drama hängt nicht vom
modernen Stosse ab; nicht die äußere Natürlichkeit, sondern
die innere Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit bildet
seinen Nerv. Durch erneute selbständige Naturbeobachtung,
durch voraufgegangenes Wirklichkeitsstudium gekräftigt und
gestählt, wird die lange zurückgehaltene Phantasie auch im
Drama zu der sreien und blühenden Bethätigung wieder
gelangen, zu der sie sich in der Malerei jetzt bereits durch-
zuringen beginnt. Schon „die Weber" tragen viele Züge
eines historischen Stils, und schon sind von ihrem Schöpfer
eine dramatische Märchendichtung und ein geschichtliches
Drama aus dem Bauernkriege in Aussicht gestellt. Monu-
mentaler Charakter will stets erobert sein. Wie sollte ein
Drama monumentales Gepräge tragen, solange wir nur
ein Luxustheater haben, das am besten recht klein und nur
für Wenige bestimmt wäre? Wie die Malerei und die
Bildnerkunst großer öfsentlicher Hallen und Gebäude, so
bedarf das Drama zu monumentaler Wirkung eines wahr-
hasten Volkstheaters, in dem sich das ganze Volk — vom
Fürsten bis zum bescheidensten Manne — festlich versammelt,
um sich vom Dichtwerke auf die Höhen des Lebens führen,
nicht um sich nur spielerisch unterhalten zu lassen. Solch
ein Volkstheater kann sich aber wiederum nur bilden, wenn
die dramatische Dichtung ihm die entsprechende Grundlage
gewährt. Da wird es denn nicht zu verkennen sein, daß
wir in dieser Richtung im letzten Jahrzehnt die erfreulichsten
Fortschritte gemacht haben ; in dem Maße, wie unsere Dramen
sich dem Charakter wahrhafter Volksstücke näherten, ist auch
die Volksbühnenbewegung immer mehr in Fluß gekommen,
und wenn sie auch noch vielfach unklar schwankt und irrt,
so liegt in ihr doch ein durchaus gesunder Kern und eine
Lebenskraft, die zn fruchtbringender Gestaltung sühren wird.

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