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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

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Heft 8 (2. Januarheft 1913)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0150

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Verständnis! Du, wirst die Antwort auf deine Frage darin finden! Man
nruß dem Volke Zeit lassen, seine Begriffe zu formen. Sieh sie dir an —
die tausend Reichen, die nicht erlahmen, dem jüdischen Kapitale jede
Existenzberechtigung abzusprechen — es mit ihrem Hohne und Abscheu
zu verfolgen. Die große Unzufriedenheit hat sie erfaßt — und sie
stammeln die neue Lehre, die sie noch nicht zu sprechen imstande
sind. Wenn aber ihre Seele genügend erstarkt sein wird, dann werden sie
ihrem Glauben gemäß handeln! Das Lhristentum wird lebendig werden!
Sie werden das ungerechte Geld in ihrer Tasche brennend empfinden und
die Armut umarmen. Schon beginnt sich um die goldenen Berge eine
grauenvolle Einsamkeit zu verbreiten, und in der winterlichen Kälte dort
oben sehnt man sich nach der qualmenden Lampe der friedlichen Hütte.
Denn es bedarf der Mensch der Liebe der Menschen wie der Lnft, des
Lichts nnd der Wärme!

Dann aber — dann wird Israel seine welthistorische, schaurige Mission
erfüllt haben, und man wird nicht mehr Reichtum und Elend, nicht mehr
Iuden und Ehristen, sondern nur Sittliche und Ansittliche unterscheiden!
Dann wird man die Menschen gleich wie die Bäume an ihren Früchten
erkennen!"

Mit wachsendem Befremden hatte Or. David den Worten des Priesters
gelauscht. Mißbilligend schüttelte er den weißen Kopf und erwiderte:
„Das wäre eine schöne Gerechtigkeit, eine ganze Rasse als sozialpolitische
Prügelknaben zu erklären!"

Der Pfarrer erhob sich. „Die Söhne Israels sind das auserwählte
Volk Gottes!" entgegnete er.

Der Arzt warf ihm einen prüfenden Blick zu. Gerade so wie damals,
als der Neffe mit kindlichem Glauben von der Gnade Gottes gesprochen,
stieg in dem alten Realisten der Verdacht auf, Ioseph erlaube sich einen
unpassenden Scherz. Aber das Gesicht des Pfarrers belehrte ihn eines
besseren. Mit blitzenden Augen nnd geröteten Wangen stand er hoch--
aufgerichtet vor ihm. Es war kein Zweifel — dieser getaufte, leiden--
schaftliche Iude glaubte unerschütterlich fest an die grausige Mission,
die seine Phantasie Israel zuschrieb. Gleich dem Flagellanten, der den
eigenen Leib unbarmherzig geißelt, war er bereit, mit dem Namen seines
Volkes alles Anrecht und alle Schmach auf Erden zu decken. And er fühlte
sich, trotz seines orthodoxen Glaubens solidarisch mit dem Stamme, dem
er entsprungen. Trotz Tonsur, Taufe und Talar war er durch und
dnrch Iude geblieben.

Alle Bitterkeit war aus der Seele des Arztss gewichen. Mit diesem
Apostel der Armut ließ sich nicht rechten. Das schillernde Bild, das seine
Beredsamkeit von der Zukunft entwarf, versöhnte ihn beinahe mit dem
Schatten der Gegenwart.

„Du meinst also, daß die Sehnsucht nach dem Himmel die Welt aus
den Angeln zu heben und umzustimmen vermögen wird?" fragte er
zweifelnd.

„Nein — nicht die Sehnsucht nach dem Himmel!"

„Aber immerhin die Sehnsucht?"

,Ia.«

„Also die Sehnsucht nach was?"

„Nach der Gsmeinschaft.«

j26 Kunstwart XXVI, 8
 
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