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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1923)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Von Brahm zu Gundolf
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0229

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Von Brahm zu Gundolf

in liebes Vuch ist mir seit vielen Iahren die Kleist»Biographie Otto
Vrahms. Das Buch ist (88^ erschienen und Erich Schmidt gewidmet:
Schererschule, historistisch, mit psychologischen Ansätzen und den-
noch unendlich sympathischer als die ungeheure zweibändige Lessingoiographie
Erich Schmidts, die bei aller Geschliffenheit der Darstellung und Tresfsicher-
heit einzelner Arteile durch ihre Materialhäufung jedes einheitliche Erlebnis
des geschilderten Dichters vernichtet. Brahm ist mit dem Herzen dabei, wenn
er über Kleist schreibt, obwohl er ihn mißversteht. Zwar: er stellt ün ein-
zelnen alles Wesentliche fest, sogar das Monomanische der Pentesilea. Aber
was hilfr das, wenn er im gleichen Atemzug über dieses ungeheure Werk
schreiben kann: „Die Voraussetzung ist wunderlich die Motivierung flüchtig,
die Technik bequem. — Keine Verwicklung und keine InLrigue hat das Stück,
das ohne Akte dahinläuft, nur Stimmung hat es und Leidenschaft." Der
Psychologe, der Schöpfer des naturalistischen Bühnenstils, sahndet überall
zuerst nach Charakteristik. Wo er sie findet, und für Kleist 'scheint sie ihm
wesentlich, da ist er glücklich So erkennt er die Kunst der Dialoggestaltung,
hie Feinheiten in der Schilderung der einzelnen Charaktere, die Kunst des
Handlungsaufbaus, die Beziehungen, die aus den einzelnen Werken in die
jeweiligen Lebensphasen des Menschen Kleist hinüberreichen, aber er ver-
mag die einzelnen erkannten Symptame noch nicht nach ihrer Wertigkeit zu
ordnem Er begreift noch nicht die Schöpfung aus einer zentralen Linstellung
des Schöpfers, er findet noch nicht ein Gesetz, aus dem heraus Kleists ganzes
Schaffen in all seinen Abwandlungen sich erklären ließe. So bleibt sein Buch
Biograp'hie, einem Versuch der Tatsachenklärung dienend, feinsinnig, klug,
zurückhaltend mit der Fülle des Materials, psychologische Studie in gutem
Sinn: Konsequente Spiegelung des impressionistischen Weltbildes.

Dieser Tage erschien ein Kleistbuch von Friedrich Gundolf
bei Georg Bondi Verlin. 38 Iahre trennen es von der tresflichen Schrift
des alten Brahm. 38 Iahre und eine Welt. Gundolf will nicht dem Dichter
dienen, sondern dem Crkenntnisdrang seiner eigenen Zeit. Er mill nicht
Einzeltatsachen erklären, sondern eine Grundeinstellung schaffen. Er
kümmert sich nicht um die Wahrheit und Vollständigkeit in der Darstellung
literar-historischer Details, sondern um die Wahrheit in sich, die der geistige
Kompler Kleist, so wie e r ihn schaut, ihm zu enthalten scheint. Es' ist mög-
lich, nein, sicher, daß der Kleist Gundolfs nur eine von vielen Möglichkeiten
darstellt. Aber es ist wahrscheinlich, daß er die für den gegenwärtigen Zeit-
punkt fruchtbarste Möglichkeit bedeutet. Biographisches ist in Gundolfs Werk
nicht mehr wiederholt. Eine kurze Einleitung führt zu der Darstellung der
Stücke und es ist das Eigentümliche dieser Darstellung, daß sie zweifellos
auch von dem, der Kleists Dramen nicht oder nur flüchtig kennen würde,
mit unvermindertem Genuß und vollem Verständnis gelesen werden könnte.
Das bedeutet aber nichts anderes, als daß dieses Buch selbst eine künstlerische
Leistung ist und sein will. Geschlossene Gestaltung eines Weltbildes, darge-
stellt als das Ergebnis eines geistigen Prozesses, dessen einzelne Stufen
manisestiert sind in den verschiedenen Kleistschen Dramen. Gundolf sindet
ein Gesetz der Gestaltung, das sich in allen Werken Kleists bestätigt. Er
scheidet Sekundäres (so alle Kleistschen Philosopheme) vom Primären (dem
Kleistschen Daimonion) und stellt sich selbst zu Brahm, dessen Name er freilich
nicht nennt. in schärfsten Gegensatz, indem er den Beweis sührt, daß Kleist
 
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