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Hartmann, Florian; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Ars dictaminis: Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts — Mittelalter-Forschungen, Band 44: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34760#0292

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1 Fiktionen in der Realität

281

vier bislang unbekannte Gelehrte aus Bologna den Kaiser darum bitten, das Verbot des
Studiums in ihrer Stadt für Studenten aus Mailand zurückzunehmen. '
Zweierlei wird an dieser Aufzählung deutlich. Die Umwälzungen der Jahre 1138/
1159 hatten Aufsehen erregt. Erstmals zeigte Barbarossa ein entschlossenes Auftreten
in Oberitalien, das die Fortführung der bislang autonomen Politik der Kommunen zu
beenden drohte. Den Zeitgenossen ist die neue Entschlossenheit des Kaisers nicht ver-
borgen geblieben. Sie musste gedeutet und kommentiert werden, insbesondere in den
gelehrten Kreisen der Bevölkerung. Eine der wenigen, wenn nicht die einzige substan-
tielle Spur dieses aus den Umständen zu erwartenden Deutungszwanges, dieses Dis-
kurses über aktuelle Geschehnisse, greifen wir in den Musterbriefen der beiden Hand-
schriften in Verona und Savignano sul Rubicone sowie in der Barberini-Sammlung der
Vatikanischen Bibliothek, die HELENE WiERuszowsKi bekannt gemacht hat. Ein Teil die-
ser Briefe steht für die Notwendigkeit, die Gegenwart zu deuten und zu verstehen.
Doch beschränken sich die Briefe nicht nur auf die Deutung und Kommentierung
bereits vergangener Geschehnisse. Daneben gaben die fingierten Briefe auch Erwartun-
gen, Hoffnungen und Lösungen für die anstehenden Probleme preis. Die Briefe sind
zwar frei erfunden; aber sie sind gleichwohl aus dem Leben gegriffen. Die Fiktionen
zeigen mögliche, denkbare, den Zeitgenossen plausibel erscheinende Folgen, die sich
aus der unsicher gewordenen Situation ergeben sollten, die Friedrich Barbarossas Auf-
treten in Italien schuf. Kommunen suchten neue Bündnis-Konstellationen; Grafen, die
mit dem Kaiser verbündet waren, fürchteten Übergriffe von Seiten der Kommunen; sie
wandten sich Hilfe suchend an Papst und Kaiser; Anhänger des Kaiser klagten über
Zerstörungen ihrer Besitzungen, während sie selbst im Dienst des Kaisers ferne Städte
belagerten. Die Briefe zeigen den Alltag dieses Krieges; sie zeigen, welche Erwartungen
man hegte. Welche künftigen Entwicklungen man zumindest für möglich hielt.
Die generelle Bedeutung dieser Briefe sowohl für die Ereignisse in Oberitalien um
1158 als auch für die Erforschung der Kommunikationsformen in den Kommunen soll
im Folgenden verdeutlicht werden. Angesichts der zahlenmäßig dürftigen Überliefe-
rung von Originalbriefen aus diesem Umfeld und dieser Zeit"* gewinnen die Muster-
briefe, die ja um ihres eigenen Erfolges willen plausibel erscheinen mussten, besondere
Bedeutung.

32 S. Anhang, Reg. II, 35, f. 145)'.
33 Unter Heranziehung dieser Briefe ergibt sich die Möglichkeit, Wissen und Wahrnehmung der
Zeitgenossen zu historisieren: Die ArUs dz'cfazzdz zeigen in ihren Briefmustern punktgenaue
Wahrnehmungen, ungefiltert durch ex-post-Wissen, das uns die Chronisten bieten. JOHANNES
FRIED hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass »Denkweisen, Handlungskategorien und
Konzeptionalisierungen«, dass soziales Wissen und »geordnetes Handeln« an Sprache gebun-
den ist. Er leitet aus dieser Erkenntnis die Forderung ab: »Sprache, Wissen, Wahrnehmen, Ver-
stehen und Handlungsmaximen müssen konsequent historisiert werden, um in diese Vergan-
genheit verstehend vorzudringen«. Liest man die Briefmuster der zzzA's dzcfazzdz als Ausdruck
gegenwarts- oder zukunftsbezogener Erwartungen, trägt man dem Postulat FRIEDS, Otto der
Große, sein Reich und Europa, S. 339, Rechnung, der mit diesem methodischen Vorgehen einen
Weg zur Vermeidung anachronistischer Deutungen vorschlägt.
34 Vgl. das Urteil ScHALLERS, Dichtungslehren, S. 262.
 
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