Die Tragik deutscher Kunst.
Weise auf, daß keine Widerlegung möglich ist. Um von
dem ersten Faktor — der Analyse — zu sprechen: welcher
Naturalismus in der äußeren Erscheinung! Welche Ant-
litze, von Marktplatzen und Straßen aufgelesen! Welche
von Häßlichkeit entstellte Hände, von Armut gemagerte
Beine! Welche Kunst, Charakter und Persönlichkeit zu
geben, und welche Entfernung von allem Typischen!
Aber zugleich der zweite Faktor: wie verzerren sich diese
Alltagsformen zu Ausdrücken und Gesten eines religiösen
Wahnes! Wie steigert sich Andacht zu Fanatik, Demut
zu Zerknirschtheit, Heiligkeit zu Erdenlosigkeit! Wie ver-
langern sich diese, der Natur abgeschauten Körper zu
schlangenförmig gewundenen Zeichen, welche die irdische
Hülle nicht mehr zu ertragen und zu sprengen scheinen?
Oder die Kathedralen selbst, das Gebäude. Schon
Goethe hat sie als eine Aufeinanderstapelung des Ein-
zelnen erkannt, so in möglichst Endloses, daß der Himmel
nahe erreicht scheint. Das Einzelmotiv hätte keine Be-
deutung, wenn es nicht hundertfach wiederholt wäre;
die Linie wäre ausdruckslos, wenn sie nicht über sich
selbst hinauszulaufen schiene. Wie bei Tafelbildern und
Plastiken zeigt sich auch hier das Prinzip der gotischen
Kunst: die Welt in Einzelmotive zu zerlegen, aber dieses
Einzelmotiv in derart gesteigertem Sinn anzuwenden,
daß es gleich einer übersinnlichen Symphonie wirkt.
So daß der Weg des gotisch-germanischen Künstlers
dieser wäre: Die problematische Welt wird analysiert,
die durch Analyse gewonnenen Einzelmotive aneinander-
gereiht und durch Häufung gesteigert, womit der innerste
Drang nach einem Ethos zum Ausdruck gelangt.
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-I-
Menschen, welche die Erde begreifen, denen sie kein
Problem mehr ist, haben es nicht nötig, sie zu analysieren.
Die Analyse ist die Methode, aus einem Chaos eine Ord-
nung zu erlangen. Menschen, welche sich keinem Chaos
gegenübersehen, ersparen sich die Analyse.
Der antike Mensch, der romanische Mensch: wie sehr
fühlen sie sich in der Welt zu Hause. Gesetzlich fühlen
sie sich in ihr eingegliedert, sie begreifen sich selbst als
einen Punkt in einer Ordnung, als eine Stelle, als eine
Aufgabe. Bevor sie geboren werden, ist ihnen das Chaos
schon Kosmos, und sie schlagen die Augen zu einer Um-
gebung auf, vor der sie nicht erzittern.
Was ist die Folge? Anstatt der Analyse die Synthese.
Denn was ich begreife, das erfasse ich; und was ich
erfasse, das forme ich. Oder: aus einer Vielheit, deren
Einzelstes ich verstehe, nehme ich nur das zum subjek-
tiven Gebrauch, das mir wichtig erscheint.
So daß man den Gegensatz des antiken Künstlers (ob
Phidias oder Raffael) zum germanischen also fassen
könnte: statt der Analyse die Synthese; statt aneinander-
gereihter Einzelmotive die Konzentration zu typischen
Formen; statt Steigerung Beschränkung; statt passiver
Jenseitigkeit aktive Jrdischkeit.
*
Sich nun vorzustellen, wie es einem Albrecht Durer
zumute sein mußte, als ihn sein Fuß über die Alpen trug!
Sich nun vorzustellen, wie sich ihm Venedig erschloß!
Denn in ihm waren seit Jahrhunderten die Traditio-
nen seines Volkes eingewurzelt. Seit Jahrhunderten
hatte die Kunst den Gläubigen gedient und nur diesen:
gleichsam ein Wagen, der die Verbindung zum Himmel
aufrecht hielt. Als Knabe vor den Blättern des Schon-
gauer studierend, hatte er es frühzeitig gelernt, wie man
irdische Formen zum Ausdruck einer überirdischen Sehn-
sucht werden läßt. Wie die Linie sich zu bewegen hat,
damit sie abstrakten Sinn erhält, und anderes mehr.
Später dann, als er seine Gesellenfahrt unternahm, zog
es ihn vor allem nach Kolmar, wo Schongauer seine
Werkstatt hatte, und es ist zwar nur ein Aufall, aber doch
einer mit höherer Bedeutsamkeit, daß er ihn nicht mehr
lebend antraf.
Aber nun sich vorzustellen, wie er nach Venedig kam!
Nun sich vorzustellen, wie der umwölkte Himmel, der
immer noch eine Welt über den Wolken zu deuten schien,
plötzlich sich auftat und blau und gesättigt sich über eine
Stadt beugen wollte, als wäre er nur ihr höchstes Dach.
Wie der arme Meister nun durch Straßen ging, die so
sehr eines prunkenden, begeisterten, tätigen Lebens voll
waren, daß für eine Betätigung darüber hinaus weder
Aeit noch Sinn blieb.
Jst es da zu verwundern, wenn er sich so schnell als
möglich aufgab, fallen ließ, wegschenkte? Wozu noch
weiterhin aller jenseitige Drang, wenn die Erde selbst
Erfüllung geworden war? Wozu mit Absicht Durst
leiden, wenn man ihn aus gefüllten Bechern löschen kann?
Und so kommt es, daß Albrecht Dürer zu beiden Malen
seines Lebens, als er Jtalien betritt, keinen besseren
Wunsch hat, als in Jtalien zu bleiben, als ein Jtaliener
zu werden, als italienische Kunstwerke zu schaffen. So-
wohl das erste Mal, da er als Jüngling hinunterkommt,
als auch das zweite Mal, da er die geliebte Stadt als
reifer Mann nochmals besucht, wachsen aus seinen Händen
Gebilde, die eine schmerzliche Angestrengtheit als eigenstes
Merkmal tragen: deutsche Tafelbilder mit einem romani-
schen Aufputz. Das berühmte „Rosenkranzfest" zu Prag
ist das bedeutendste von ihnen, und für eine Ewigkeit wird
es ein Signum germanischer Tragik bleiben. Statt der
naturalistischen Aufeinanderreihung von abgeschauten
Motiven wählt Dürer die „suntu convorsuÄono", jene
Kompositionsform, welche eine schöne Formel für eine
wahre Abzeichnung gibt, oder — um es anders zu sagen:
welche alle erplosive Andächtigkeit der Einzelindividuen
zu einem feststehenden Ritus einer typischen Mensch-
form macht. Bei kleineren Meistern geht der große
Meister in die Schule, und er neidet ihnen die schöne syn-
thetische Form, ohne es zu ahnen, daß er mit einem ein-
zigen Silberstiftstrich, und wäre dieser noch so zersetzend
und nordisch, mehr von Gottes Antlitz gibt, als es das
ganze Werk des farbenvollen Giovanni Bellini vermochte.
Freilich, sobald ihn die Heimat wieder empfängt,
schwindet fern, wie ein Traum, der Glanz des sonnigen
Daseins. Hier sind wieder winklige Gassen, dumpfe
Kammern, knorrige Apfelbäume, Giebeldächer, sturm-
umwehte Steige zur Burg empor, beschränkte Rats-
herren, Handwerker als Genossen, eine unschöne und
zänkische Frau. Schwer liegt das Leben auf ihm und
er dünkt sich ein Schmarotzer, und es weiß niemand zu
sagen, ob er sich erinnert, auf dem Platz des hl. Markus
als Gentilhomme umherstolziert zu sein. Wie aber
immer die Heimat sei: seine Kunst findet den Weg zu den
Müttern zurück. Mählich fällt Linie auf Linie in eine
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Weise auf, daß keine Widerlegung möglich ist. Um von
dem ersten Faktor — der Analyse — zu sprechen: welcher
Naturalismus in der äußeren Erscheinung! Welche Ant-
litze, von Marktplatzen und Straßen aufgelesen! Welche
von Häßlichkeit entstellte Hände, von Armut gemagerte
Beine! Welche Kunst, Charakter und Persönlichkeit zu
geben, und welche Entfernung von allem Typischen!
Aber zugleich der zweite Faktor: wie verzerren sich diese
Alltagsformen zu Ausdrücken und Gesten eines religiösen
Wahnes! Wie steigert sich Andacht zu Fanatik, Demut
zu Zerknirschtheit, Heiligkeit zu Erdenlosigkeit! Wie ver-
langern sich diese, der Natur abgeschauten Körper zu
schlangenförmig gewundenen Zeichen, welche die irdische
Hülle nicht mehr zu ertragen und zu sprengen scheinen?
Oder die Kathedralen selbst, das Gebäude. Schon
Goethe hat sie als eine Aufeinanderstapelung des Ein-
zelnen erkannt, so in möglichst Endloses, daß der Himmel
nahe erreicht scheint. Das Einzelmotiv hätte keine Be-
deutung, wenn es nicht hundertfach wiederholt wäre;
die Linie wäre ausdruckslos, wenn sie nicht über sich
selbst hinauszulaufen schiene. Wie bei Tafelbildern und
Plastiken zeigt sich auch hier das Prinzip der gotischen
Kunst: die Welt in Einzelmotive zu zerlegen, aber dieses
Einzelmotiv in derart gesteigertem Sinn anzuwenden,
daß es gleich einer übersinnlichen Symphonie wirkt.
So daß der Weg des gotisch-germanischen Künstlers
dieser wäre: Die problematische Welt wird analysiert,
die durch Analyse gewonnenen Einzelmotive aneinander-
gereiht und durch Häufung gesteigert, womit der innerste
Drang nach einem Ethos zum Ausdruck gelangt.
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Menschen, welche die Erde begreifen, denen sie kein
Problem mehr ist, haben es nicht nötig, sie zu analysieren.
Die Analyse ist die Methode, aus einem Chaos eine Ord-
nung zu erlangen. Menschen, welche sich keinem Chaos
gegenübersehen, ersparen sich die Analyse.
Der antike Mensch, der romanische Mensch: wie sehr
fühlen sie sich in der Welt zu Hause. Gesetzlich fühlen
sie sich in ihr eingegliedert, sie begreifen sich selbst als
einen Punkt in einer Ordnung, als eine Stelle, als eine
Aufgabe. Bevor sie geboren werden, ist ihnen das Chaos
schon Kosmos, und sie schlagen die Augen zu einer Um-
gebung auf, vor der sie nicht erzittern.
Was ist die Folge? Anstatt der Analyse die Synthese.
Denn was ich begreife, das erfasse ich; und was ich
erfasse, das forme ich. Oder: aus einer Vielheit, deren
Einzelstes ich verstehe, nehme ich nur das zum subjek-
tiven Gebrauch, das mir wichtig erscheint.
So daß man den Gegensatz des antiken Künstlers (ob
Phidias oder Raffael) zum germanischen also fassen
könnte: statt der Analyse die Synthese; statt aneinander-
gereihter Einzelmotive die Konzentration zu typischen
Formen; statt Steigerung Beschränkung; statt passiver
Jenseitigkeit aktive Jrdischkeit.
*
Sich nun vorzustellen, wie es einem Albrecht Durer
zumute sein mußte, als ihn sein Fuß über die Alpen trug!
Sich nun vorzustellen, wie sich ihm Venedig erschloß!
Denn in ihm waren seit Jahrhunderten die Traditio-
nen seines Volkes eingewurzelt. Seit Jahrhunderten
hatte die Kunst den Gläubigen gedient und nur diesen:
gleichsam ein Wagen, der die Verbindung zum Himmel
aufrecht hielt. Als Knabe vor den Blättern des Schon-
gauer studierend, hatte er es frühzeitig gelernt, wie man
irdische Formen zum Ausdruck einer überirdischen Sehn-
sucht werden läßt. Wie die Linie sich zu bewegen hat,
damit sie abstrakten Sinn erhält, und anderes mehr.
Später dann, als er seine Gesellenfahrt unternahm, zog
es ihn vor allem nach Kolmar, wo Schongauer seine
Werkstatt hatte, und es ist zwar nur ein Aufall, aber doch
einer mit höherer Bedeutsamkeit, daß er ihn nicht mehr
lebend antraf.
Aber nun sich vorzustellen, wie er nach Venedig kam!
Nun sich vorzustellen, wie der umwölkte Himmel, der
immer noch eine Welt über den Wolken zu deuten schien,
plötzlich sich auftat und blau und gesättigt sich über eine
Stadt beugen wollte, als wäre er nur ihr höchstes Dach.
Wie der arme Meister nun durch Straßen ging, die so
sehr eines prunkenden, begeisterten, tätigen Lebens voll
waren, daß für eine Betätigung darüber hinaus weder
Aeit noch Sinn blieb.
Jst es da zu verwundern, wenn er sich so schnell als
möglich aufgab, fallen ließ, wegschenkte? Wozu noch
weiterhin aller jenseitige Drang, wenn die Erde selbst
Erfüllung geworden war? Wozu mit Absicht Durst
leiden, wenn man ihn aus gefüllten Bechern löschen kann?
Und so kommt es, daß Albrecht Dürer zu beiden Malen
seines Lebens, als er Jtalien betritt, keinen besseren
Wunsch hat, als in Jtalien zu bleiben, als ein Jtaliener
zu werden, als italienische Kunstwerke zu schaffen. So-
wohl das erste Mal, da er als Jüngling hinunterkommt,
als auch das zweite Mal, da er die geliebte Stadt als
reifer Mann nochmals besucht, wachsen aus seinen Händen
Gebilde, die eine schmerzliche Angestrengtheit als eigenstes
Merkmal tragen: deutsche Tafelbilder mit einem romani-
schen Aufputz. Das berühmte „Rosenkranzfest" zu Prag
ist das bedeutendste von ihnen, und für eine Ewigkeit wird
es ein Signum germanischer Tragik bleiben. Statt der
naturalistischen Aufeinanderreihung von abgeschauten
Motiven wählt Dürer die „suntu convorsuÄono", jene
Kompositionsform, welche eine schöne Formel für eine
wahre Abzeichnung gibt, oder — um es anders zu sagen:
welche alle erplosive Andächtigkeit der Einzelindividuen
zu einem feststehenden Ritus einer typischen Mensch-
form macht. Bei kleineren Meistern geht der große
Meister in die Schule, und er neidet ihnen die schöne syn-
thetische Form, ohne es zu ahnen, daß er mit einem ein-
zigen Silberstiftstrich, und wäre dieser noch so zersetzend
und nordisch, mehr von Gottes Antlitz gibt, als es das
ganze Werk des farbenvollen Giovanni Bellini vermochte.
Freilich, sobald ihn die Heimat wieder empfängt,
schwindet fern, wie ein Traum, der Glanz des sonnigen
Daseins. Hier sind wieder winklige Gassen, dumpfe
Kammern, knorrige Apfelbäume, Giebeldächer, sturm-
umwehte Steige zur Burg empor, beschränkte Rats-
herren, Handwerker als Genossen, eine unschöne und
zänkische Frau. Schwer liegt das Leben auf ihm und
er dünkt sich ein Schmarotzer, und es weiß niemand zu
sagen, ob er sich erinnert, auf dem Platz des hl. Markus
als Gentilhomme umherstolziert zu sein. Wie aber
immer die Heimat sei: seine Kunst findet den Weg zu den
Müttern zurück. Mählich fällt Linie auf Linie in eine
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