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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 4
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Röttger, Karl: Das Warten im Frühling: Frühlingsmärchen
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Zoff, Otto: Die Tragik deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0161

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Das Warten im Frühling.

Hab ichs getan? Aber Jesus bin ich nicht. Jch bin
ja so jung, und auch klein noch. Steh doch einmal
auf. Er ist aufgesprungen und zieht sie sorgsam hoch
an der Hand. So, nun lege deine Hand auf meinen
Kopf und fühle, größer bin ich nicht. Fühle auch meine
Arme, so jung bin ich noch.

Ja, sagt sie. Es ist eine leise Traurigkeit in ihr. Und
dann schweigt sie lange. Aber auf einmal wird ihr
Gesicht wieder ganz hell. Aber das beweist ja nichts;
sagt sie. Du könntest es ja doch sein. Der junge
Jesus!

Aber er ist ja längst tot, und wieder im Himmel,
sagt der Knabe.

Sie schüttelt den Kopf — warum sollt er nicht längst
wiedergekommen sein! Warum sollt er nicht auf dem
Wege sein. Es sind noch immer genug Blinde und Lahme
in der Welt. Und viele, denen man predigen könnte;
denen er predigen könnte: vom Gutsein ... und-

Aber ich sagte dir, Magdalene, ich bin jung, schwach,
und kann nichts tun. Jch kann deine Augen nicht heilen.

Jch weiß, sagt sie. Aber auch er war einst jung —
war ein Kind und tat damals auch noch nicht all das,
was er — spater tat...

Du liebst ihn sehr. — Es möchte ja auch vielleicht
einmal sein, daß er käme. Das sagt er aber wohl nur,
um sie zu trösten.

Aber nun muß ich dich heimbringen. Die Sonne
wird groß und rot. Und weit hinten über dem Moor
und im Bruch steigt es leis und weiß auf. Der Abend
will feucht und kühl werden.

Er schneidet ein Birkenzweiglein und gibt es ihr. Er
pflückt ein paar Blümchen für sie. Sie gehn heim.
Es sind ja nur wenige Schritte. Er geleitet sie zu ihrem
Stuhl. Die Großmutter schläft noch. Sie fragt: Bleibst
du noch? Er schüttelt den Kopf. Dann erst merkt er,
daß sie es ja nicht sehen kann, und sagt: Nein, aber ich
will wiederkommen. Doch du mußt ganz allein sein.
Denn sonst kann ich nicht mit dir sprechen.

Sie lächelt und fragt: Warum denn nicht?

Dann finde ich keine Worte, wenn Menschen da sind. —

Die Großmutter bewegt sich, sie hebt die Hände.
Jch muß gehn, flüstert er, drückt ihre Hände und geht.
Ganz leise, man hört es kaum. Die Großmutter ist ganz
aufgewacht. War jemand hier? fragt sie. Das Mädchen
lächelt. Ja, aber ich weiß nicht, wer es war.

Von der Straße her kommen nun auch die Schritte
der Mutter und der Brüder. Da sind wir, ruft die Mutter.
Blieben wir euch auch zu lange fort? — Magdalene
lächelt. Nein, die Großmutter schlief. Und ich war
im Frühling — bis dort zu den Birken, er hat mir den
Frühling gezeigt! — Die Mutter staunt: Wer denn?
War jemand hier?

Ja, sagt das Mädchen. Und ich hab ihn gefragt,
wer er sei. Aber er sagte es nicht. Dann fragte ich ihn,
ob er Jesus sei, und da sprach er: Nein. Nun will ich
nachdenken, wer es war. Könntest du dir denken, wer
es war?

Nein, sagt die Mutter. Sie wiegt das Haupt, und
staunt herab auf ihr Kind, das dasitzt und glückselig
lachelt. Vielleicht hat sie auch ein wenig geschlafen und
geträumt, denkt sie.

Er hat mir den Frühling gezeigt, sagt sie weiter.
Er hielt meine Hand und sah in den Frühling, und sagte
mir alles, was da war... Nein, wohl nicht alles, es ist
noch vieles da, das ich nicht sah, aber ich war doch
draußen im Frühling.

Aber sie stehen alle um sie und verstehen sie nicht.

Jch werde den Tisch decken, und das Abendbtot
besorgen, sagt die Mutter, ich glaube, wir sind alle
hungrig. — Gehst du mit hinein?

Bis alles fertig ist, laßt mich noch draußen, sagt
Magdalene. Danach holt mich hinein.

So sitzt sie noch in der Dämmerung des Frühlings,
hat die Hände wieder vor sich auf dem Schoß liegen
und denkt, und lauscht, und wartet...

ie Tragik deutscher Kunst.

Wir wissen von germanischen Bildwerken, von
germanischen Architekturen, von germanischen
Gedichten. Jhre Differenz zu sremder Kunst fühlt der
Laie, der sich Stephan Lochner und Masaccio gleichzeitig
gegenübersieht, instinktiv. Jst es möglich, daß er ver-
wechselt?

Selbst dem ungeübten Auge: führt ihn eine Brücke
von einem Blatt des Dürerschen Marienlebens zu
Raffael?

Nein, niemals wird sich der handwerksfleißige Maler,
der in der winkeligen Stadt Nürnberg schafft, verleugnen
können. Wanderungen über die Alpen, Studien in Rom,
fanatisches Anwerfen an romanische Meisterschaft: sie
vermögen gegen das innerlichste Wesen nichts, das —
trotz allem — die dickste Tünche über einer Leinwand
durchsprengt.

Was ist also dieses germanische Kunstwesen? Was ist
ein germanisches Kunstwerk?

Die Deutung hat Worringer für alle Aeiten in seinen
„Formproblemen der Gotik" niedergelegt: in Beweisen,
welche nicht in Kürze wiederzugeben sind und welche
nicht umgestoßen werden können. Dieses eigentlichste
germanische Wesen, das sich nicht auslöschen laßt, ist
eben die Gotik. Gotik aber ist: an der irdischen Welt als
an einem unlösbaren Problem leiden und durch sie hin-
durch oder über sie hinweg den Weg in eine andere Welt
suchen. Damit erklärt sich alle deutsche Kunst. Der
Künstler, der die Erde noch nicht gelöst, viel weniger be-
griffen hat, setzt sich mit ihr mit einer angestrengten Jn-
brünstigkeit auseinander, indem er sie analysiert. Daher
also in allen deutschen Malerwerken eine vielfaltige,
summierende, detaillierende, ängstliche Wiedergabe der
Natur in allem Sichtbaren. Andernteils aber: Weil der
Künstler sie nicht erkennt, weil er sie zu analysieren ge-
zwungen ist, weil sie ihm ein Chaos von Tatsachen ist,
unter denen er leidet und die ihm unlösbar erscheinen,
muß er die Erlösung über den irdischen Tatsachen suchen.
Das Resultat ist ein Rausch aufwärts, eine dem Über-
sinnlichen verwirkte Ekstase, welche keinen andern Aus-
druck findet, als das Gesehene und Tatsächliche gesteigert,
berauscht, ekstatisch wiederzugeben.

Gotische Heilige und Propheten, welche in den Toren
der Kathedralen stehen, weisen das Gesagte in einer

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