Bahnhöfe und die Ieit.
und einer Gurt weißer spitzer Zähne gleich einem Fisch.
Um den unwissenden Mund eine strenge Falte. Viele
glaubten, er sei 17. Sie fragten, ob er im Feld gewesen?
Ja. Verwundet? Erfrorene Füße. Alter? 15.
Es gab eine Nacht, die sich ganz gruppierte um einen
Oldenburger, der fabelhaft sprach. Er hatte etwas bei
sich, was alle Menschen umriß: den Splitter (haarscharf
am gezackten Nand) eines schweren franzvsischen Festungs-
geschützes. Der Splitter war viermal so groß wie eine
Hand und zehnmal so schwer als man glaubte. Er hielt
ihn mit einem stummen Lächeln hin, und wer ihn sah,
zuckte zusammen. Er war umschwärmt von einem Aivi-
listen, der aus Jtalien in die Schweiz, von der Schweiz
nach Deutschland abgeschoben war, ein brüchiges Aas,
halb Friseur, halb Artist. Er trug eine Handtasche, einen
Smoking, keinen Mantel, und als er sich bückte, geschah
es, daß man es sah: eine Chemisette, doch kein Hemd.
Der oldenburgische Soldat war auf der Fahrt (von
Straßburg her) in einem Abteil, als Damen den Splitter
sahen, so rückhaltlos beschenkt worden, daß er stolz auf
den Gang hinausschritt und, wie er einen Kellner sah,
schrie: „Aigaretten". Der Kellner aber kam auf ihn zu
(er trug noch außerdem ein rotes Taschentuch) und sagte
empört: „Jch bin Tangotänzer aus Milano". So hatten
die beiden sich kennen gelernt. Der Soldat wußte nicht
sehr gut, was das sei, Tangotänzer aus Milano, aber er
wußte, daß sein Freund es auf die drei Mark abgesehen
hatte, die er in der Tasche trug, und sah mit stiller Klug-
heit von unten herauf zu, wenn der andere ihn einseifte.
Er imponierte ihm zu wenig in seinem Muskelbau. Und
das war genug, sich nicht betrügen zu lassen. Der Kampf
war rührend. Allein der Soldat siegte. Er war ein famoser
Junge, urwüchsig und überlegen aus Vitalität. — So
kam Humor wie ein verirrter Lichtstrahl augenblickslang
in die Halle geschwommen.
Manchmal erloschen alle Lichter. Das rote Meer der
Laternen, das am Ausgang der Halle vor der Grenze
der Nacht lag, erlosch. Dann waren feindliche Flieger
gemeldet und der Bahnhof stand, dunkel, geduckt, wartend
und wie ein Tier im Fieber von der Nacht eingehüllt.
Jn manchen Stunden, wo keine regelmäßigen Aüge
gingen, rollten unablässig, schweigend, ohne zu halten,
lange Kolonnen von Munitionswagen durch den Bahn-
hof und verschwanden stumm geisternd in die Nacht.
Weiter war nichts an ihnen, kein Iiel, keine Bestimmung,
die wir wüßten. Sie kamen aus dem Dunkel, sie fuhren
in das Dunkel. So geschah Fassungüloses in vielen For-
men. Es war schwer, neu und wunderbar.
Es kamen eines Tages Transporte von Kriegsbeute,
aufgelesene Schlachtfelder verbreiteten ihren Atem.
Österreichische Soldaten wurden gesehen. Eine Herde
tragender Stuten klapperte auf dem Asphalt der Rampe.
Ein stahlblauer Himmel mit Sternen war Hintergrund,
auf dem Silhouetten von Wäldern sich bewegten und
über den die hellen Fanale dampfender Lokomotiven
weiße Kegel ballten.
Mit gespenstiger Lautlosigkeit, so wie man nachts
das Gleiten der Luftschiffe von Wolken in Wolken emp-
findet, so fuhren Lazarettzüge in die Perrons. Auf den
Dächern, die weiß gestrichen waren, lagen riesige Kreuze,
mennigrot.
Hin und wieder geschah das Stumme eines Ab-
schieds. Das war das Tiefste und Grausamste. Der
Augenblick, in dem das ganze Wollen und das gesamte
schon gelebte Dasein zweier Menschen sich mit einer
letzten ungestümen Ausammengerafftheit in einem raschen
Kusse vereinigt, ist das ergreifendste Erleben und zer-
reißt das Herz.
Stumm schweben zahllose Bogenlampen darüber.
Bahnhöfe sind die Kaleidoskope, in denen der Strahl
der Aeit sich sammelt und in neue Faser bricht. Jn dem
Augenblick des Sammelns aber liegt alles Menschliche
beschlossen: Freude, Grauen, Tod, tiefstes Mitleid und
u„gch-u°,lichp-, S,°lz. Edschmid.
ie Unterströme der Stadt.
Von Paul Aech.
Ein grauer, Bäume zerfressender Spätnachmittag im
Oktober. Uber das fleckige Steinicht der Straßen hallte
der Eisentritt preußischer Landwehrbataillone. Rhein-
länder in singender Ausgelassenheit wie von Schützen-
festen her. Man dachte an wundervolle Burschentage in
Neuß. Auf der Rennwiese das Riesenrad, die Meer-
jungfer und — „haut ihn, den Lukas".
Aber aus dem flämischen Gegiebel fiel kein knisterndes
Rotfeuer. Die Fenster waren leer. Keine Gardinen,
Geranien, Blondköpfe. Die langsamen Schläge der
Uhren flogen aufgeschreckt über die kalten Dächer. Man
fröstelte. Spürte Fühler einer feindlichen Umringung
von allen Seiten. Erfuhr jede Tür, die im Vorübergehn
von einem abrückte, unter gesenkten Brauen wie jenen
Lehrer, der den Elfjährigen mit brennender Aigarette
angetroffen hatte, irgendwo auf einer Allee, und nichts
sagte. Aber in der nächsten Religionsstunde Nichtgelerntes
siebenmal abfragte.
Es standen aber doch Bürgerfrauen auf dem eirunden
Platz vor der Erlöserkirche. Dieses Wunderbauwerk, wel-
ches das zwölfte Jahrhundert angefangen hatte zu bauen,
um vom dreizehnten vollendet zu werden, barg noch
den Gott von zwölf unversehrten Aposteln umschart. Den
gekreuzigten Gott (mit elfenbeinernem Leibe an ge-
dunkeltem Silberstamm) auf denr Hochaltar. Eines
Greisen Stimme sang das kindhaft-zitternde Herz in die
verblichenen Goldsterne des Gewölbes empor. Und durch
die Chorfenster floß der graue Himmel der Stadt feierlich
in breiten Scharlachströmen. Fiel auf die weißen Stein-
fliesen herab, daß man sich einen Moment verstimmt über
die Augen fuhr, den Daumen in die Schläfen setzte —:
was geschieht mit den Verstorbenen da unten im Gewölbe
und wer vermochte den geruhigen Staub in klopfende
Tropfen Blut zu wandeln?
Es war eine sichtliche Erleichterung, wieder auf der
Straße zu sein, einemMenschen zu begegncn, der seinenGe-
müsekarren schob und eine irgendwo aufgefundene englische
Militärmütze auf den wirren, flachsigen Strähnen trug.
Der Weg an den schweigenden Häusern vorüber wurde
durch das regelmäßige Knarren des Wägelchens hinter
uns her wie zu einer Fahrt durch einen Tunnel, der bald
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und einer Gurt weißer spitzer Zähne gleich einem Fisch.
Um den unwissenden Mund eine strenge Falte. Viele
glaubten, er sei 17. Sie fragten, ob er im Feld gewesen?
Ja. Verwundet? Erfrorene Füße. Alter? 15.
Es gab eine Nacht, die sich ganz gruppierte um einen
Oldenburger, der fabelhaft sprach. Er hatte etwas bei
sich, was alle Menschen umriß: den Splitter (haarscharf
am gezackten Nand) eines schweren franzvsischen Festungs-
geschützes. Der Splitter war viermal so groß wie eine
Hand und zehnmal so schwer als man glaubte. Er hielt
ihn mit einem stummen Lächeln hin, und wer ihn sah,
zuckte zusammen. Er war umschwärmt von einem Aivi-
listen, der aus Jtalien in die Schweiz, von der Schweiz
nach Deutschland abgeschoben war, ein brüchiges Aas,
halb Friseur, halb Artist. Er trug eine Handtasche, einen
Smoking, keinen Mantel, und als er sich bückte, geschah
es, daß man es sah: eine Chemisette, doch kein Hemd.
Der oldenburgische Soldat war auf der Fahrt (von
Straßburg her) in einem Abteil, als Damen den Splitter
sahen, so rückhaltlos beschenkt worden, daß er stolz auf
den Gang hinausschritt und, wie er einen Kellner sah,
schrie: „Aigaretten". Der Kellner aber kam auf ihn zu
(er trug noch außerdem ein rotes Taschentuch) und sagte
empört: „Jch bin Tangotänzer aus Milano". So hatten
die beiden sich kennen gelernt. Der Soldat wußte nicht
sehr gut, was das sei, Tangotänzer aus Milano, aber er
wußte, daß sein Freund es auf die drei Mark abgesehen
hatte, die er in der Tasche trug, und sah mit stiller Klug-
heit von unten herauf zu, wenn der andere ihn einseifte.
Er imponierte ihm zu wenig in seinem Muskelbau. Und
das war genug, sich nicht betrügen zu lassen. Der Kampf
war rührend. Allein der Soldat siegte. Er war ein famoser
Junge, urwüchsig und überlegen aus Vitalität. — So
kam Humor wie ein verirrter Lichtstrahl augenblickslang
in die Halle geschwommen.
Manchmal erloschen alle Lichter. Das rote Meer der
Laternen, das am Ausgang der Halle vor der Grenze
der Nacht lag, erlosch. Dann waren feindliche Flieger
gemeldet und der Bahnhof stand, dunkel, geduckt, wartend
und wie ein Tier im Fieber von der Nacht eingehüllt.
Jn manchen Stunden, wo keine regelmäßigen Aüge
gingen, rollten unablässig, schweigend, ohne zu halten,
lange Kolonnen von Munitionswagen durch den Bahn-
hof und verschwanden stumm geisternd in die Nacht.
Weiter war nichts an ihnen, kein Iiel, keine Bestimmung,
die wir wüßten. Sie kamen aus dem Dunkel, sie fuhren
in das Dunkel. So geschah Fassungüloses in vielen For-
men. Es war schwer, neu und wunderbar.
Es kamen eines Tages Transporte von Kriegsbeute,
aufgelesene Schlachtfelder verbreiteten ihren Atem.
Österreichische Soldaten wurden gesehen. Eine Herde
tragender Stuten klapperte auf dem Asphalt der Rampe.
Ein stahlblauer Himmel mit Sternen war Hintergrund,
auf dem Silhouetten von Wäldern sich bewegten und
über den die hellen Fanale dampfender Lokomotiven
weiße Kegel ballten.
Mit gespenstiger Lautlosigkeit, so wie man nachts
das Gleiten der Luftschiffe von Wolken in Wolken emp-
findet, so fuhren Lazarettzüge in die Perrons. Auf den
Dächern, die weiß gestrichen waren, lagen riesige Kreuze,
mennigrot.
Hin und wieder geschah das Stumme eines Ab-
schieds. Das war das Tiefste und Grausamste. Der
Augenblick, in dem das ganze Wollen und das gesamte
schon gelebte Dasein zweier Menschen sich mit einer
letzten ungestümen Ausammengerafftheit in einem raschen
Kusse vereinigt, ist das ergreifendste Erleben und zer-
reißt das Herz.
Stumm schweben zahllose Bogenlampen darüber.
Bahnhöfe sind die Kaleidoskope, in denen der Strahl
der Aeit sich sammelt und in neue Faser bricht. Jn dem
Augenblick des Sammelns aber liegt alles Menschliche
beschlossen: Freude, Grauen, Tod, tiefstes Mitleid und
u„gch-u°,lichp-, S,°lz. Edschmid.
ie Unterströme der Stadt.
Von Paul Aech.
Ein grauer, Bäume zerfressender Spätnachmittag im
Oktober. Uber das fleckige Steinicht der Straßen hallte
der Eisentritt preußischer Landwehrbataillone. Rhein-
länder in singender Ausgelassenheit wie von Schützen-
festen her. Man dachte an wundervolle Burschentage in
Neuß. Auf der Rennwiese das Riesenrad, die Meer-
jungfer und — „haut ihn, den Lukas".
Aber aus dem flämischen Gegiebel fiel kein knisterndes
Rotfeuer. Die Fenster waren leer. Keine Gardinen,
Geranien, Blondköpfe. Die langsamen Schläge der
Uhren flogen aufgeschreckt über die kalten Dächer. Man
fröstelte. Spürte Fühler einer feindlichen Umringung
von allen Seiten. Erfuhr jede Tür, die im Vorübergehn
von einem abrückte, unter gesenkten Brauen wie jenen
Lehrer, der den Elfjährigen mit brennender Aigarette
angetroffen hatte, irgendwo auf einer Allee, und nichts
sagte. Aber in der nächsten Religionsstunde Nichtgelerntes
siebenmal abfragte.
Es standen aber doch Bürgerfrauen auf dem eirunden
Platz vor der Erlöserkirche. Dieses Wunderbauwerk, wel-
ches das zwölfte Jahrhundert angefangen hatte zu bauen,
um vom dreizehnten vollendet zu werden, barg noch
den Gott von zwölf unversehrten Aposteln umschart. Den
gekreuzigten Gott (mit elfenbeinernem Leibe an ge-
dunkeltem Silberstamm) auf denr Hochaltar. Eines
Greisen Stimme sang das kindhaft-zitternde Herz in die
verblichenen Goldsterne des Gewölbes empor. Und durch
die Chorfenster floß der graue Himmel der Stadt feierlich
in breiten Scharlachströmen. Fiel auf die weißen Stein-
fliesen herab, daß man sich einen Moment verstimmt über
die Augen fuhr, den Daumen in die Schläfen setzte —:
was geschieht mit den Verstorbenen da unten im Gewölbe
und wer vermochte den geruhigen Staub in klopfende
Tropfen Blut zu wandeln?
Es war eine sichtliche Erleichterung, wieder auf der
Straße zu sein, einemMenschen zu begegncn, der seinenGe-
müsekarren schob und eine irgendwo aufgefundene englische
Militärmütze auf den wirren, flachsigen Strähnen trug.
Der Weg an den schweigenden Häusern vorüber wurde
durch das regelmäßige Knarren des Wägelchens hinter
uns her wie zu einer Fahrt durch einen Tunnel, der bald
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