ie Märchen von der Traurigkeit.
Von Karl Röttger.
I.
Alle Traurigkcit beginnt mit ei'ncni kleinen Augcnblick
der Seligkeit. Und das ist so zu verstehen: einc kleine
Hoffnung ist da odcr ein Warten auf eine Seligkeit. . .
Und solches Hoffen und Warten aus Schönheit und Selig-
keit ist ja schon Seligkeit. Aber danach, auf einmal, ist
es doch nicht da, sondern etwas Seltsames, Unsaßbares
ist da, an das man nicht gedacht hatte. Da schwillt die
Trauer auf, die senkt sich in eines KindeS oder Menschen
Blick, da sängt ein leises Fürchten an, daß man die Wclt
vielleicht noch nicht verstehe. Noch nicht verstehe; und
daß sie vielleicht grausamer sei, als wir dachten.
(Abcr sie ist nicht so grausam. Wir denken nur so.
Und alle Trauer und Angst quälen unS nur, darum, daß
wir sröhlich sein möchten und beruhigt schlasen möchten
in des Schicksals Arm; im Arm der Liebe und der Güte
und des Mitfühlens. Aber ich weiß wohl, daß alle O.ual
und alles Leiden schwer zu tragen sind. Darum aber
sind, die solches tragen, auserwählt. Wie denn der alte
und der neue Christus spricht: „DaS Glück der Aus-
erwählten ist: leiden")
Es ist tief der Glaube in den Menschenherzen, daß
hinter aller Traurigkeit eine große Freude kommen wird
und kommen muß, wie hinter der Nacht der Morgen.
Dies aber ist das erste Märchen von der Traurigkeit:
Theo, das Kind, stand an einem Morgen im Juni
aus dem Boden von seines Vatcrs Haus, dort, wo hintcr
den Haufen von Stroh und Heu das Gerümpel lag;
das Licht aus der offenen Bodenluke ging bis dahin, bis
an die Mitte des Raums .. . Ein altes Spinnrad stand
da, ein Tisch, aus dem der Vater das Leder zurechtschnitt,
eine Leiter, alte Schuhleisten, ein großer Kasten mit alten
Raspeln, Feilen, Hämmern, Zangen, einem alten Beil
und kurzen Eisenstangen ...
Die Sonne schien durch die Luke her und die Stäubchen
tanzten im Licht... Nun war da eine Stange, die war quer
gelegt vom schrägen Dach bis zu dem Lattengitter, daS
den Boden in zwei Hälften teilte: und auf diescr
Stange saß ein Vogel...
(Er war wohl von draußen hereingeflogen und hatte
sich auf die Stange gesetzt.)
Aber noch hatte Theo ihn nicht gesehen. Er saß noch
bei den alten Dingen und überlegte, was er davon mit-
nehmen sollte nach unten in den Hausflur odcr in den
Garten oder wo immer er spielte.
Und da wandte er sich nun und sah den Vogel. Es
war wie ein Schreck; abcr ein schöner Schreck. Das
Tierchen saß auf der Stange und äugte nach beiden
Seiten . .. Er sah im Halbdunkel das Kind wohl nicht,
daS nun offen und groß, aber ganz still zu ihm ausschaure.
Dann stand Theo auf, hob sich auf den Zehen, reckte
ein wenig den Arm und Ieigefinger und ging . . . ging
auf den Vogel zu, ganz leise, kam näher, o so leise, und
legte ganz sanst den Finger auf den Fuß deö VogelS, der
die Stange umklammert hielt. Und das war beglückende
Seligkeit. Der Vogel äugte einen Augenblick herab, was
da sei - was da etwa Seltsameö sei (er hatte das Kind
noch nicht gesehcn) - und flog auf einmal, ängstlich
flatternd, fort.
* *
*
Daö Kind stand noch einen Augenblick, ein wenig weh
im Genmte; denn er hatte doch dem Vogcl nichtö Böses
tun wollen. Er sah zur offenen Bodenluke hinauö, da
der Vogcl fortgeflogen war. Wandte sich, nahm einige
der Feilen und Hämmer, die er gesucht hatte, und ging
„nach unten".
* *
*
Diesen Vogel nun, der ihn cntzückt hatte, da er ihm
so nahe war, sah Theo bald hcrnach, als er vorm Hause
spielte, wieder, über der Mauer, dahinter der Garten lag.
Der Garten, aus dem oft an den schönen Abenden die
Mädchenstimmen sangen, auö dem herauö im Juni die
Weinblüte duftete, aus dem heraus die Bäume am
Morgen Schatten warfen in seines Vaterö Hof, über
deffen Mauer die Haselnußbäume wiegten, in dessen
Baumkronen die Vögel sangen.
Und siehe, da saß der Vogel auf dem einen Iweig
der Haselnuß; und er kannte ihn wieder und lächelte
ihn an. Er hatte mit dem Spielen aufgehört und stand,
den Kopf emporgereckt.
Und dann war auf einmal der Schrecken da und das
Fürchten und die Traurigkeit. Er sah den Vogel wippen,
schaukeln auf dem schwanken Iweig, und dann (er sah
kaum, wie es war), die Katze hatte wohl auf der Lauer
gelegen, auf der Mauer, sie sprang mit einem scharfen
Ruck in die Höhe und hielt den Vogel in den Fängen.
Der hatte einen Schrei getan und war nun ganz still.
Die Katze war mit wenigen Sätzen von der Mauer
herunter und scheu am Kinde vorbei, der Haustür zu,
auS der eben die Mutter mit einem Eimer trat. Und
das Kind stand da und konnte nur zeigen und lallen:
da, da — —
Aber schon war die Katze im Hause verschwunden . . .
Und die Muttcr, die nicht verstand, waS daS Kind wolle,
ging mit dem Eimer zur Pumpe... So blieb Theo wie
in einer großen Leere stehn, mit halb offnem Mund.
2.
DaS zweite Märchen von der Traurigkeit klingt
anderö . . .
Ein Bild steigt auf. Ein großes roteS Haus. Iwischen
der Kirche und diesem Haus ist ein Platz, auf dem spielen
Kinder.
Und eincS Tagcs stand Theo an der Hand der Mutter
neben der Kirche und sah das Spiel an. Er faßte die
Hand der Mutter etwas festcr, dcnn ihm wurde ein wenig
schwindlig vor dem großen Platz und den vielen, vielen
laufcnden,jagendcn,rufenden,schreiendenKindern (zwischen
denen große dunkle Gestalten crnst und würdevoll auf
und ab gingen).
Und als er eine Weile geschaut hatte, fragte cr scine
Mutter und zog ein wenig an ihrcr Hand: Was ist daS?
Darauf sagte die Mutter, über seinen Kopf hinweg
und auch den großen Platz mit den vielen Kindern an-
schauend: DaS ist die Schule, mein Kind.
Er aber sragte noch ei'nmal: Was ist das? Und die
Mutter sagte abermalö: Die Schule, mein Kind; wo die
Kinder lernen: lesen, schreiben, singen ...
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Von Karl Röttger.
I.
Alle Traurigkcit beginnt mit ei'ncni kleinen Augcnblick
der Seligkeit. Und das ist so zu verstehen: einc kleine
Hoffnung ist da odcr ein Warten auf eine Seligkeit. . .
Und solches Hoffen und Warten aus Schönheit und Selig-
keit ist ja schon Seligkeit. Aber danach, auf einmal, ist
es doch nicht da, sondern etwas Seltsames, Unsaßbares
ist da, an das man nicht gedacht hatte. Da schwillt die
Trauer auf, die senkt sich in eines KindeS oder Menschen
Blick, da sängt ein leises Fürchten an, daß man die Wclt
vielleicht noch nicht verstehe. Noch nicht verstehe; und
daß sie vielleicht grausamer sei, als wir dachten.
(Abcr sie ist nicht so grausam. Wir denken nur so.
Und alle Trauer und Angst quälen unS nur, darum, daß
wir sröhlich sein möchten und beruhigt schlasen möchten
in des Schicksals Arm; im Arm der Liebe und der Güte
und des Mitfühlens. Aber ich weiß wohl, daß alle O.ual
und alles Leiden schwer zu tragen sind. Darum aber
sind, die solches tragen, auserwählt. Wie denn der alte
und der neue Christus spricht: „DaS Glück der Aus-
erwählten ist: leiden")
Es ist tief der Glaube in den Menschenherzen, daß
hinter aller Traurigkeit eine große Freude kommen wird
und kommen muß, wie hinter der Nacht der Morgen.
Dies aber ist das erste Märchen von der Traurigkeit:
Theo, das Kind, stand an einem Morgen im Juni
aus dem Boden von seines Vatcrs Haus, dort, wo hintcr
den Haufen von Stroh und Heu das Gerümpel lag;
das Licht aus der offenen Bodenluke ging bis dahin, bis
an die Mitte des Raums .. . Ein altes Spinnrad stand
da, ein Tisch, aus dem der Vater das Leder zurechtschnitt,
eine Leiter, alte Schuhleisten, ein großer Kasten mit alten
Raspeln, Feilen, Hämmern, Zangen, einem alten Beil
und kurzen Eisenstangen ...
Die Sonne schien durch die Luke her und die Stäubchen
tanzten im Licht... Nun war da eine Stange, die war quer
gelegt vom schrägen Dach bis zu dem Lattengitter, daS
den Boden in zwei Hälften teilte: und auf diescr
Stange saß ein Vogel...
(Er war wohl von draußen hereingeflogen und hatte
sich auf die Stange gesetzt.)
Aber noch hatte Theo ihn nicht gesehen. Er saß noch
bei den alten Dingen und überlegte, was er davon mit-
nehmen sollte nach unten in den Hausflur odcr in den
Garten oder wo immer er spielte.
Und da wandte er sich nun und sah den Vogel. Es
war wie ein Schreck; abcr ein schöner Schreck. Das
Tierchen saß auf der Stange und äugte nach beiden
Seiten . .. Er sah im Halbdunkel das Kind wohl nicht,
daS nun offen und groß, aber ganz still zu ihm ausschaure.
Dann stand Theo auf, hob sich auf den Zehen, reckte
ein wenig den Arm und Ieigefinger und ging . . . ging
auf den Vogel zu, ganz leise, kam näher, o so leise, und
legte ganz sanst den Finger auf den Fuß deö VogelS, der
die Stange umklammert hielt. Und das war beglückende
Seligkeit. Der Vogel äugte einen Augenblick herab, was
da sei - was da etwa Seltsameö sei (er hatte das Kind
noch nicht gesehcn) - und flog auf einmal, ängstlich
flatternd, fort.
* *
*
Daö Kind stand noch einen Augenblick, ein wenig weh
im Genmte; denn er hatte doch dem Vogcl nichtö Böses
tun wollen. Er sah zur offenen Bodenluke hinauö, da
der Vogcl fortgeflogen war. Wandte sich, nahm einige
der Feilen und Hämmer, die er gesucht hatte, und ging
„nach unten".
* *
*
Diesen Vogel nun, der ihn cntzückt hatte, da er ihm
so nahe war, sah Theo bald hcrnach, als er vorm Hause
spielte, wieder, über der Mauer, dahinter der Garten lag.
Der Garten, aus dem oft an den schönen Abenden die
Mädchenstimmen sangen, auö dem herauö im Juni die
Weinblüte duftete, aus dem heraus die Bäume am
Morgen Schatten warfen in seines Vaterö Hof, über
deffen Mauer die Haselnußbäume wiegten, in dessen
Baumkronen die Vögel sangen.
Und siehe, da saß der Vogel auf dem einen Iweig
der Haselnuß; und er kannte ihn wieder und lächelte
ihn an. Er hatte mit dem Spielen aufgehört und stand,
den Kopf emporgereckt.
Und dann war auf einmal der Schrecken da und das
Fürchten und die Traurigkeit. Er sah den Vogel wippen,
schaukeln auf dem schwanken Iweig, und dann (er sah
kaum, wie es war), die Katze hatte wohl auf der Lauer
gelegen, auf der Mauer, sie sprang mit einem scharfen
Ruck in die Höhe und hielt den Vogel in den Fängen.
Der hatte einen Schrei getan und war nun ganz still.
Die Katze war mit wenigen Sätzen von der Mauer
herunter und scheu am Kinde vorbei, der Haustür zu,
auS der eben die Mutter mit einem Eimer trat. Und
das Kind stand da und konnte nur zeigen und lallen:
da, da — —
Aber schon war die Katze im Hause verschwunden . . .
Und die Muttcr, die nicht verstand, waS daS Kind wolle,
ging mit dem Eimer zur Pumpe... So blieb Theo wie
in einer großen Leere stehn, mit halb offnem Mund.
2.
DaS zweite Märchen von der Traurigkeit klingt
anderö . . .
Ein Bild steigt auf. Ein großes roteS Haus. Iwischen
der Kirche und diesem Haus ist ein Platz, auf dem spielen
Kinder.
Und eincS Tagcs stand Theo an der Hand der Mutter
neben der Kirche und sah das Spiel an. Er faßte die
Hand der Mutter etwas festcr, dcnn ihm wurde ein wenig
schwindlig vor dem großen Platz und den vielen, vielen
laufcnden,jagendcn,rufenden,schreiendenKindern (zwischen
denen große dunkle Gestalten crnst und würdevoll auf
und ab gingen).
Und als er eine Weile geschaut hatte, fragte cr scine
Mutter und zog ein wenig an ihrcr Hand: Was ist daS?
Darauf sagte die Mutter, über seinen Kopf hinweg
und auch den großen Platz mit den vielen Kindern an-
schauend: DaS ist die Schule, mein Kind.
Er aber sragte noch ei'nmal: Was ist das? Und die
Mutter sagte abermalö: Die Schule, mein Kind; wo die
Kinder lernen: lesen, schreiben, singen ...
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