Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

DOI Heft:
Heft 6
DOI Artikel:
Röttger, Karl: Bachs letzte Tage: Novelle
DOI Artikel:
Halm, August Otto: Aufsätze über Musik: eine vergessene Form
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0220

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Bachs lehts Tage.

Sie waren alle ganz still; sie fühlten das Wehen eines
Fremden, Großen. . . . Er flüsterte ein paarmal, aber
sie verstanden es nicht mehr....

Dann, wie mit einer ganz großen Kraftanstrengung,
hob er das Haupt, reckte den Hals — — und sank hin
und lag ganz still. Ganz still. Erst nach einem bangen
Augenblick erkannten sie, daß er tot war.

Von draußen her drangen die Geräusche eines milden,
vergehenden Tages, der Atem eines flüsternden Sommer-
tages und leise Dammerung herein.... Und sie salte-
ten die Hande und sagten nichts. —

ufsähe über Musik.

Eine vergessene Form.

Bachs Jtalienischem Konzert gönnen die Programme
der Gegenwart immerhin einigen Raum. Dagegen er-
innere ich mich keines einzigen gedruckten oder ge-
sprochenen Worts, das der Besonderheit seiner Form
gewidmet wäre; zum mindesten kann man sagen, daß
diese in dem ästhetischen und historischen Denken unserer
Aeit kaum eine Rolle spielt. Nur von einem Jrrtum
weiß ich, der sie ihm noch zu verhüllen geeignet ist:
nämlich daß Bach hier schon so etwas wie eine erste
Sonate geschrieben habe.

Allzu bereit, die Formfragen, als dem sogenannten
Jnhalt, besser gesagt dem Charakter und Stimmungs-
gehalt gegenüber unerheblich, zurückzusetzen, ja zum
Teil sogar in einem Dünkel von Erhabensein über der-
artiges vermeintlich Außerliche, gewannen wir freilich
auch keineswegs die Tüchtigkeit dazu, Form zu erleben,
das Leben der Form wie die Eigenschaften einer Gattung
auf uns wirken zu lassen. Lernen wir vorerst einmal
durch unterscheidendes Vergleichen besser sehen, um
dann besser zu verstehen.

Den Blick, den wir gleichsam auf den geistigen Längs-
schnitt der werdenden und wachsenden Sonaten-
Hauptform richten, zieht besonders eine Linie durch
ihre Klarheit, ihren bestimmten Zug an. Betrachten
wir sie, indem wir sie von ihrem Ende an zurückverfolgen.

1. Beim ersten Eintritt des Gesangsthemas pflegt
Anton Bruckner die neue Tonart mit dem Vorhergehen-
den nur wenig fest zu verbinden, und gerade das Ober-
dominantverhältnis vermeidet er da gern. Das heißt: er
will die neue Tatsache nicht als Folge, nicht als Resultat,
sondern eben als neuen künstlerischen Faktor, und zwar
als Antithese einstellen (wogegen er dann zur Wieder-
kehr dieser Gruppe die harmonisch nähere oder nächste
Beziehung wählt).

2. Beethoven benutzt an dieser Stelle noch fast
regelmäßig das Oberdominantverhältnis, womit er der
Gruppe des Gesangsthemas ihre Vorgängerin, die
„Überleitungsgruppe", geistig möglichst annähert. Er
will auf das zweite Thema hinführen, was Bruckner
gerade fürs erste Mal nicht oder nur wie mit Vorbehalt
zu tun pflegt — in manchen seiner Sätze finden wir eine
wirkliche Überleitungsgruppe überhaupt nicht vor.

Dafür entfernt Beethoven im allgemeinen die zweite
Hauptgruppe von der Haupttonart des ganzen Satzes

weiter, als es seine Vorläufer taten: er bevorzugt da
die Terzverwandtschast vor der Quintverwandtschaft.
Und zwar hielt er sich mehr und mehr an diesen Ge-
brauch, den er also offenbar als eine formale Errunqen-
schaft schätzte.

3. Wofern sich hier überhaupt etwas folgerichtig ent-
wickelte, muß auch der Gehalt an Gegensätzlichem inner-
halb der Hauptform, das Eigenleben der gegensatzlichen
Hauptthemen sich gesteigert haben und damit auch
räumlich die Form gewachsen sein.

Und so begegnen wir denn umgekehrt in der früheren,
kleineren Sonate von mehr verschwiegener oder vor-
sichtiger Gegensätzlichkeit einem harmonischen Verhält-
nis, das später ganz außer Kurs geriet: das zweite Thema
setzt in der Oberdominant-Tonart ein, gleich nach dem
Halbschluß auf dem Oberdominantakkord, der nun also
weit mehr die Tonika denn die Oberdominant als die
gewollte Tonart erwarten ließ. Kommt zwar die end-
liche Erfüllung dieser Erwartung der Wiederkehr der
zweiten Gruppe zugut, so erregt doch ihr dergestaltigeS
erstes Auftreten, das auf den überzeugenden Quintfall
wie auch auf den Gang oder Sprung der Harmonie ver-
zichtet, nicht selten ein leichtes, manchmal auch ein deut-
liches Unbehagen, hie und da etwa ähnlich wie wenn uns
am Ende einer Treppe der flache Boden überrascht, da
wir uns noch auf eine Stufe gefaßt gemacht hatten.
Wenigstens erinnere ich mich, daß ich beim frühesten
Sonatenspielen hierbei das Gefühl hatte, da sei irgend
etwas falsch. Das Umschalten eines solchen Gefühls in
eine Spannung ging damals noch nicht in mir vor. Heute
erkenne ich mindestens für einzelne Fälle einen Vorzug
in dieser Weise, eine neue Tonart einzuführen, so nämlich,
daß sie, weil nicht so recht fest gegründet, sehr deutlich
als Tonart zweiten Ranges erscheint. Als gutes Bei-
spiel nenne ich den Eintritt des zweiten Themas im
ersten Satz der ersten Symphonie von Beethoven.
Wahrscheinlich macht es sein Leichtes, Anspruchsloses,
daß dem plötzlichen Umwerten des Oberdominant-
akkords in die neue Tonika nichts von diktatorisch Gewalt-
samem noch auch von Unfertigem oder Lahmem an-
haftet, daß wir vielmehr wie mit einem zwar unerwar-
teten, aber freundlichen: „da sind wir schon" uns in das
neue Gelände emporgehoben und eingeführt finden.

Erkennen wir hier den Willen zu äußerlicher har-
monischer Nähe, so dürfen wir als eine schwesterliche von
Gesinnung eine andere Technik erwähnen, die aber,
indem sie den Leittoninhalt und das ganze Streben des
Oberdominantakkords zu vereiteln sich hütet, natürlicher
wirkt: nämlich das Anheben des zweiten Themas auf
dem eben erreichten Oberdominantakkord der Ober-
dominanttonart: womit die gleiche körperliche Nähe
geschaffen ist. Beethoven liebt gerade dieses Anknüpfen
sehr; ich verweise nur aus die ersten Sätze des ersten
Streichquartetts (k-Dur, op. 18), der „Sonate für das
Hammerklavier".

-i- ^ *

Nach diesem Blick auf den Verlauf der Entwicklung
verstehen wir erst recht die Bescheidenheit, das anfäng-
liche schüchterne Es-versuchen mit dem Gegensätzlichen,
da eine ihrer selbst, ihres dialektischen Wesens noch un-
bewußte Sonate gewissermaßen erst das Terrain zu

ror
 
Annotationen