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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 8
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Lissauer, Ernst: Verschollene Gedichte
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Bartels, Ilse: Die Landstraße
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0297

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Verschollene Gedichte.

wenn er gesenkteren Flugs leicht sich die Schwinge benetzt.
Blutige Wellen entsandte zum Meer der gewaltige

Strom her,

der auf dem Wege den Kampf duldender Menschen gcschaut.
Und in langsamem Lausi der Vertraute gcheimerer Leiden,
Waffer, mit Tränen gemischt, wälzte dcr trauernde Berg.
Aber es reinigt Galene die Flut vom Blut und den

Tränen,

und mit Augen und Hand glättet und ftillt sie die See.
Niemals sah ich das Meer, doch sah ich den herbstlichen

Himmel,

wie ein fliegendeö Meer, blaulich und glänzend gewölbt;
alS ob nie er das Leben von fterbenden Lippen getrunken,
alö ob nie sich mit ihm schmerzliche Seufzer gemischt,
als ob nimmer ein Blitz den Teppich, den blauen,

gespalten,

schuldlos lag er und mild schwellend von Heiterkeit da.
Als ich lang ihn beschaut, da ward mir die Seele zum

Kinde;

Lethe's labender Quell träufelte kühlend herab.
Untertauchten im Lichte die Schatten entschwundener Tage,
und kühn sprach sich das Herz von der Vergangenheit frei.
Ruhe und Heiterkeit ist die versöhnende Tugend; die Reue
drückt die Schlangen beftürzt, statt sie zu töten, ans Herz.
Sei willkommen, Galene, nach tausend zerwühlenden

Stürmen

L>l, auö Rosen gepreßt, gießeft du über die Flut.

Wie am Tage der Schöpfung, so atm' ich Frieden und

Wonne;

jeder Tag ohne Gram ift mir ein Tag der Geburt.
Selten ist Stille des Meers und seltener Stille der Seele.
Haltet den trübenden Hauch, Götter und Menschen zurück!

* *

*

Gustav Pfizer (1807 —1890) war Profeffor am
Stuttgarter Obergymnasium. Sein erfteö Gedichtbuch
erschien 1831, daS zweite, dem dies Gedicht entstammt,
I8Z5.

Galene ift eine der Nere'lden, der Töchter Nereus',
der, nach dem griechischen MythoS, im Agäischen Meere
hauft, und Galene ist die Göttin der Meeresstille. Mag
manche Zeile akademisch klingen, mag der Gesang das
Gedicht eines Nachfahrenden, nicht aus Urblut der der
Welt unmittelbar Getränkten sein: diese Nachlese ver-
schollener Gedichte will ja nicht nur die Stücke ersten
Rangcö sammeln, auch die vom zweiten und dritten,
sosern sie nur auch lcbendig sind. Ein Strahl des
griechischen LichteS, daö saft alle schwäbischen Dichter
beglänzt, hat auch diesen getroffcn, und seine Hexameter
sind glatt, aber nicht wie Papier, sondern wie die wind-
ftille See, die sie mit ruhiger Jntensität widerspiegeln,
so wie sie selber den gelaffenen Hünmel.

ir Landstraße.

Von Jlse Bartels.

Wenn die Landstraße reden konnte, mit uns, die wir darauf
hin und wieder wandern, dann würde sic oicl zu crzählen habcn.
Viel Sonderbares: Lustiges und Trauriges. Vielleicht würdc sie
auch garnichts sagen, wic allc Großen, Stillen, die so tief das
Lcben kcnncn und wcnig reden.

Da ist einc Landstraße, dic gehört zu dcn Tigenwilligen, die
gcrne tun was sie wollen; die liebcr einen grvßcn Umweg machen,
als geradeswcgs auf cin Ziel zuzulaufen, das sie nicht mögen. So
läuft sie gernc langc durch das flachc Wicsenland, wo zu beiden
Scitcn der Holunder hohe vcrträumte Hecken bildet. Sie macht
eincn weiten Bogen um den Blotenberg, der abends den Sonncn-
untcrgang verbirgt. Hinauf mag sie nicht. Und dann drängt sie
sich dicht an den See hinan und geht cin Stück mit ihm bis an
cin hohes Parktor. Da mcint man zucrst von weitcm, daß sie
schnurstracks in den Park hincinliefc, und wenn man näher kommt,
dann sieht man, daß sie dicht vor dem Tore ein wenig zogert
und neugierig hineinschaut und dann rechts hcrum immcr an dem
Gitter entlang gcht, bis es zu Ende ist. Sie hält sich so dicht
an dcn Park heran, damit er ihr von scinem Duft gebe im Sommer,
und von seinen bunten Blättern im Herbst.

Vor kurzcm war hier Hochzcit gewescn, der Gutshcrr hatte
seine junge Frau hcimgcführt, ein langer frohlicher Hochzeitszug
war auf dcr Landstraße dahergezogen.

Sie hatte gern fröhliches Leben, lachende Gesichter und junge
Füße, die zum Tanzc wollten, und Sonntags trug sie viel buntes
Lcben her. Dann kam der Krieg, und es wurdc stiller. Sie hat
dic fieberhafte Unruhe in dcn ersten Tagen gesehen. Sic sah den
jungen Gutsherrn hinausreiten und nicht wicderkommen, und sie
vergaß nicht dcn cigenen, bitter entschlossencn Ausdruck in jeinen
Augen. Sie sah die vielen cinsamen Frauen wartend an den
Fcnstern stehen. Und der schwere Schritt der Soldaten war anders
wic derer, die sonst nach frohlichem Tanz heimkehrten.

Abcnds ist es nun so eigentümlich still. Nur die ganz jungen
Burschen, dic noch nicht hinausziehen, und die Mädchen kehren
von den Fcldcrn hcim, und ihr Schritt ist jung und stark. Sonst
kommt niemand dahergcgangen. Und die Burschen sihen noch
lange vor den Häusern und der Wind trägt die weichcn Klänge

der Harmonika zu ihr hin. Aus dem Parktor weht cin schwercr
Duft, von dem Holunderbaum, der sich weit übcr das Tor bcugt,
und von den Nosen, die auf dcm Rasen vor dem Hause blühen.
Und sie wird nachdenklich und sieht durch das Tor und sucht an
dcn Fenstern entlang, bis sie wieder an einem Cckfenster die junge
Frau bemerkt, immer geradeaus, traurig zu ihr hinsehend.
„Kommt," sagt sie dann wohl zu den Nebeln, die auf dem Sec
ihre Rcigen tanzen, „kommt, deckt mich zu, damit ihr die Augen
nicht schmerzen".

Es ist «in heißer Tag; aus dem Hausc, drübcn, hinter dem
Parktor, weht die Fahne. Der rote Streifen leuchtet grell in der
Sonne auf und der Schatten geht über dcn Rasen hin und über
die Nosen. Mit der Dämmerung kommt ein Reiter die Land-
straße dahcr, bestaubt und müde. Der Landstraße ahnt nichts
Gutes und sic legt ihm manchen Stcin in den Wcg, daß sein Pfcrd
stolpere. Aber er kommt doch zum Parktor hin und rcitet hindurch.

Am Abcnd sieht sie drüben zwei Händc die Fahne fortnehmen.

Der Tau liegt noch auf den Halmen, die junge Frau fährt
bleich und traurig dic Landstraße hin, den Sec entlang, um dcn
Blotenberg, durch dic Wcidcn — wo der Holunder nicht mchr weiß,
wo er seine Blütcn laffen soll — zur Station. Und cs ist kcin
Staub auf dcr Straße, und kein Stein »erletzt die Hufc der Pferde.

Nun wartct sie. Die Landstraßc wartet, und der Holundcr
wartet und das weiße hohe Parktor. Es sind schwüle Tage und
schwermütige Nächte. Nächte, die nicht dunkel wcrden könncn und
blcich an dem See stehen.

Und eincs Abends bringt dic Landstraße einen traurigen Zug
heran. Ein langer, schwarzbehangener Wagcn und dahinter dic
junge Frau einsam in ihrem Gcfährt. Sic fahrcn langsam, und
die Landstraße seufzt unter der traurigen Last, und der alte Ho-
lunder duckt sich und hält dcn Atem an, daß die bleiche Frau
seincn Duft nicht spüre.

„Hülle mich ein," sagt die Landstraße zur Nacht, dic noch
zögcrnd am See steht, „mir ist so weh, daß ich nichts mchr sehen
mag!" Und die Nacht hat Crbarmen. Cin Sturm fährt dic Land-
straße cntlang, daß die Bäume ächzen und der altc Holundcr
stöhnend seine Armc gegcn daS Parktor schlägt. Die Wolkcn
ballen sich, und der Donner hebt grollend sein Haupt.

Dor dem Fenster, wo cine frühalte Frau einsam bci einem
Sarge sitzt, reißt der Wind den Noscn dic Blättcr aus und streut
sie in wildem Tanzc auf den Rasen hin.

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