Sankt Helena.
An den undichten Fugen sang der Wind, wieder
sühlten alle die trostlose Einsamkeit, die Kleinheit der
Jnsel in den mächtigen Gewässern. Nur stets erneutes
Sprechen und Denken über andere Dinge konnte über
das quälende Empfinden hinwegtäuschen.
Napoleon klopfte mit der Dose leicht auf den Tisch.
„Sie mögen recht haben, Montholon. Gesetze sollen
auch nach der ureigensten Art jedes Volkes gemacht
werden, nicht zum Awecke der Umformung nationaler
Eigentümlichkeiten. Wenn der einzelne auch durch
starke Willensveranlagung an sich etwas zu ändern ver-
mag, die Masse kann es nicht. Aber diese Nationalfehler
würden doch andern Völkern die Möglichkeit —"
Er brach ab und strich das dünne Haar aus der weiß-
gelben Stirn. Sein Blick wurde düster.
„Wenn ich nur bei Waterlooo — welches Datum
haben wir, Gourgaud?"
„Den elften März, Sire!"
„Ach, heute vor zwei Jahren stand ich wieder an der
Spitze des schönsten Reiches der Welt! Dieses Volk
wäre unter meiner Führung auch ohne Anderung seiner
Eigenschaften noch gewachsen, es wäre jung und das
erste geblieben. Jch begriff und achtete es, als ich meinen
Traum von Korsikas Befreiung ausgeträumt und Sinn
für die Wirklichkeiten bekommen hatte. Ach, Frank-
reich! Ich wünsche, daß meine Asche an den Ufern der
Seine ruhe inmitten des französischen Volkes, das ich so
sehr geliebt habe!"
Napoleon hatte mit so starker Empfindung gesprochen,
daß niemand zu reden wagte. Wie eine Flut mächtiger
Gefühle wogte es im Aimmer, noch enger erschien allen
der kleine Salon, und nur allmählich zwangen sich die
Gedanken zurück zum unerbittlichen Jetzt. Die Fenster
zitterten wieder unter dem Winddruck, die Eingeschlosse-
nen lauschten und glaubten die Brandung donnern zu
hören. Eine schwere, müde Stimmung drang ein, es
gab keinen Kampf mehr gegen die Trostlosigkeit.
„Lesen Sie heute weiter im Buch Esther," flüsterte
der Kaiser matt nach Las Cases hin.
Die drei Getreuen setzten sich. Eintönig klangen die
Verse: „Denn wie kann ich zusehen dem Übel, das mein
Volk treffen würde? Und wie kann ich zusehen, daß mein
Geschlecht umkomme?"
Ratten huschten über den Teppich, die Unwirklichkeit
wuchs, das schwacherhellte Aimmer mit den regungslosen
Gestalten und dunklen Ecken glich einer Erscheinung,
einem gespenstischen Traum. Langsam sank das Haupt
des Herrschers aus die Brust; er schlief ein. Sein Atem
ging ruhig, aber die Gedanken wanderten regellos in
vergangenen Tagen, er flüsterte Namen von Marschällen
und Schlachten, seltsam fielen seine hastig leisen Worte
in den uralten Bericht des Testaments.
reiGedichte von Franziska Stöcklin.
Föhn.
Bang ist diese Stunde,
Draußen brandet Föhn.
Kranke Tiere wimmern
Jn sein dumpf Getön.
Alle Bäume schwanken,
Zweige knacken ab,
Und die Kränze schleift er
Vom gepflegten Grab.
Gelbe Wolken segeln
Jn entrückter Bahn,
An zerrißne Ufer
Schlägt gebundner Kahn.
Dünnes Glück zersplittert
Er in tiefe Nacht
Über einem Menschen,
Der im Wahnsinn lacht.
Bang ist diese Stunde,
Zürnend keucht der Föhn,
Dürre Blätter rascheln
Jn sein dumpf Getön.
Sturm im Garten.
Düster hangt zerschlißner Himmel,
Amazonenwolken jagen,
Sinnverwirrend Blattgewimmel,
Nuß- und Apfelbäume schlagen
Krachend Aste ineinander.
Früchte liegen ausgequollen,
Jhre Wunden Regen spült,
Und die süßen rosenvollen
Bete hat der Sturm zerwühlt.
Krankheit.
Kühle Hände decken
Brennendes Gehirn,
Schlummer, Schlaf, Erschrecken.
Sichelmond, Gestirn.
Dumpfe wirre Trauer,
Armes blaffes Kind.
Fieber, Müde, Schauer,
Schmerz, Kuß, Traum, der Wind.
erschollene Gedichte.
Gesammelt von Ernft Lissauer.
Galene.
Von Gustav Pfizer.
Wie aus blaulichem Stahl, dem künstlich geschliffnen,
geschmiedet,
dehnet in glänzender Ruh' abends sich schweigend daö Meer.
Unter dem kühlen Kristall sind selige Götter geborgen,
aber es dringet ihr Hauch nicht an den Spiegel empor.
Stille, gebändigt ftehen die grünlichen Rosse Poseidons,
heben die Mähnen nicht mehr schwarz und beschämt aus
der Flut,
und kaum ritzet dem Meer ein Vogel die flüssige Wunde,
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An den undichten Fugen sang der Wind, wieder
sühlten alle die trostlose Einsamkeit, die Kleinheit der
Jnsel in den mächtigen Gewässern. Nur stets erneutes
Sprechen und Denken über andere Dinge konnte über
das quälende Empfinden hinwegtäuschen.
Napoleon klopfte mit der Dose leicht auf den Tisch.
„Sie mögen recht haben, Montholon. Gesetze sollen
auch nach der ureigensten Art jedes Volkes gemacht
werden, nicht zum Awecke der Umformung nationaler
Eigentümlichkeiten. Wenn der einzelne auch durch
starke Willensveranlagung an sich etwas zu ändern ver-
mag, die Masse kann es nicht. Aber diese Nationalfehler
würden doch andern Völkern die Möglichkeit —"
Er brach ab und strich das dünne Haar aus der weiß-
gelben Stirn. Sein Blick wurde düster.
„Wenn ich nur bei Waterlooo — welches Datum
haben wir, Gourgaud?"
„Den elften März, Sire!"
„Ach, heute vor zwei Jahren stand ich wieder an der
Spitze des schönsten Reiches der Welt! Dieses Volk
wäre unter meiner Führung auch ohne Anderung seiner
Eigenschaften noch gewachsen, es wäre jung und das
erste geblieben. Jch begriff und achtete es, als ich meinen
Traum von Korsikas Befreiung ausgeträumt und Sinn
für die Wirklichkeiten bekommen hatte. Ach, Frank-
reich! Ich wünsche, daß meine Asche an den Ufern der
Seine ruhe inmitten des französischen Volkes, das ich so
sehr geliebt habe!"
Napoleon hatte mit so starker Empfindung gesprochen,
daß niemand zu reden wagte. Wie eine Flut mächtiger
Gefühle wogte es im Aimmer, noch enger erschien allen
der kleine Salon, und nur allmählich zwangen sich die
Gedanken zurück zum unerbittlichen Jetzt. Die Fenster
zitterten wieder unter dem Winddruck, die Eingeschlosse-
nen lauschten und glaubten die Brandung donnern zu
hören. Eine schwere, müde Stimmung drang ein, es
gab keinen Kampf mehr gegen die Trostlosigkeit.
„Lesen Sie heute weiter im Buch Esther," flüsterte
der Kaiser matt nach Las Cases hin.
Die drei Getreuen setzten sich. Eintönig klangen die
Verse: „Denn wie kann ich zusehen dem Übel, das mein
Volk treffen würde? Und wie kann ich zusehen, daß mein
Geschlecht umkomme?"
Ratten huschten über den Teppich, die Unwirklichkeit
wuchs, das schwacherhellte Aimmer mit den regungslosen
Gestalten und dunklen Ecken glich einer Erscheinung,
einem gespenstischen Traum. Langsam sank das Haupt
des Herrschers aus die Brust; er schlief ein. Sein Atem
ging ruhig, aber die Gedanken wanderten regellos in
vergangenen Tagen, er flüsterte Namen von Marschällen
und Schlachten, seltsam fielen seine hastig leisen Worte
in den uralten Bericht des Testaments.
reiGedichte von Franziska Stöcklin.
Föhn.
Bang ist diese Stunde,
Draußen brandet Föhn.
Kranke Tiere wimmern
Jn sein dumpf Getön.
Alle Bäume schwanken,
Zweige knacken ab,
Und die Kränze schleift er
Vom gepflegten Grab.
Gelbe Wolken segeln
Jn entrückter Bahn,
An zerrißne Ufer
Schlägt gebundner Kahn.
Dünnes Glück zersplittert
Er in tiefe Nacht
Über einem Menschen,
Der im Wahnsinn lacht.
Bang ist diese Stunde,
Zürnend keucht der Föhn,
Dürre Blätter rascheln
Jn sein dumpf Getön.
Sturm im Garten.
Düster hangt zerschlißner Himmel,
Amazonenwolken jagen,
Sinnverwirrend Blattgewimmel,
Nuß- und Apfelbäume schlagen
Krachend Aste ineinander.
Früchte liegen ausgequollen,
Jhre Wunden Regen spült,
Und die süßen rosenvollen
Bete hat der Sturm zerwühlt.
Krankheit.
Kühle Hände decken
Brennendes Gehirn,
Schlummer, Schlaf, Erschrecken.
Sichelmond, Gestirn.
Dumpfe wirre Trauer,
Armes blaffes Kind.
Fieber, Müde, Schauer,
Schmerz, Kuß, Traum, der Wind.
erschollene Gedichte.
Gesammelt von Ernft Lissauer.
Galene.
Von Gustav Pfizer.
Wie aus blaulichem Stahl, dem künstlich geschliffnen,
geschmiedet,
dehnet in glänzender Ruh' abends sich schweigend daö Meer.
Unter dem kühlen Kristall sind selige Götter geborgen,
aber es dringet ihr Hauch nicht an den Spiegel empor.
Stille, gebändigt ftehen die grünlichen Rosse Poseidons,
heben die Mähnen nicht mehr schwarz und beschämt aus
der Flut,
und kaum ritzet dem Meer ein Vogel die flüssige Wunde,
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