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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 11
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Lüthgen, Eugen: Spätgotik und Frührenaissance in der niederrheinischen Bildnerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0393

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Abb. 6. Aus dem Lettner von St. Maria im Kapitol, Köl».

beherrscht das Flachbild des Schreines. Men-
schen und Tiere, Stadte und Baume, Felsen
und Berge sind unbedenklich und lebhaft neben-
und übereinander gestellt. Von dem Gesetz
der Anordnung ist ein sinnlich wahrnehm-
bares Vorstellungsbild nicht zu gewinnen. Es
würde dem Wesen gotischer Bildfüllung wider-
sprechen.

Jn der Predella herrscht Ordnung. Schon
ist eine Mittelachse gefunden, die den Maß-
stab der Flachcnteilung abgibt. Jn der Gre-
goriusmesse fast schon völlige Gleichseitigkeit;
in dem Martyrium des Bischofs EraSmus ist
sie gesteigert bis zur außersten Betonung eincr
gedachten senkrechten Mittcllinie, die das Bild
in zwei gleichartige Halften teilt.

Der Beldensnyder Arnold, der von 1480
bis 1484 iit Calcar lebte und 1491 in Awolle
starb, bringt den belgischen Einschlag. Jn dem
Altar der sieben Freuden Marias der Pfarr-
kirche in Calcar, der in den Jahren 1483
bis 1493 entstand, schöpft Meister Arnold die
ncuen Schönbeitswerte aus belgischen Vorbil-
dern (Abb. 2). Er leitet die stcife, befangene
Art des Predellameisters in geschmeidige Be-
wegung und stolzes Selbstvertrauen über.

Nichts Eckiges mehr laßt die Stege der Fallen
erstarren. Ein weiches, glcitendes Fließen löst
jedeö Stocken in Bewegung auf. Dcnnoch lie-
gen die schmalen Grate der Falten scharf auf
den glatten weichen Gewandflachen auf. Jn
dem Gegensatz der scharfen Stege und der sich
rundenden Weichheit der glatten Gewandflächen
liegt die besondere Eigenart des neuen,
werdenden Stiles. Auf der Entwicklung der
Faltenbeivegung beruht die Stilentwicklung, die übcr
Derick Jeger zu Heinrich Douvermann führt.

Die Körper, die Meistcr Arnold formt, sind groß
und schlank; kleine Köpfe krönen sie. Die Menschen
stehen da, ruhig, sinnend, heiter-sröhlich. Sie stehen nicht
willkürlich irgendwo im Raumc. Sie sind zu Gruppcn
geordnet. Die Seiten balten sich das Gleichgewicht. Sie
sind sogar nach berechenbaren Linicngebilden angeord-
net. Jn der Anbetung der Weisen und in Christi Geburt
ist es das gleichschenkelige, ja fast gleichseitige Dreieck,
das wesentliche Teile des Aufbaues und der Gliederung
bestimmt. Hier lebt schon echter Geist der Renaissance.

Hcinrich Douvcrmann und sein Sohn Johann voll-
enden, was Meister Arnold begann. 1510—1515 arbeitele
Heinrich Douveriuann nüt Jakob Dericks am Klever
Marienaltar. 1518—1522 hat er a» der Vollendung
des Calcarer und um 1536 am kkantener Liebfrauen-
altar mitgewirkt (Abb. 3, 4). Er ist vielleicht der einzige
der in Calcar schaffenden Meister, der einen persönlichen
Stil von persönlicher Ausdruckskraft besitzt. Er schlicßt
sich unmittelbar an Meister Arnold an, dessen Stil er
fortbildet und vollendct. Er ist der Vernüttler zwischcn
Derick Jeger und dem Berendonkschen Kreuzweg in
Panten. Aus einem neuen Gefühl heraus schafft er den
Siebenschmerzenaltar in Calcar. Sein letzter Ausdruck
ist der Lantener Marienaltar. Er ist der Haupttrager des

Renaissancegefühls. Sein Stil ist frei und groß und
durchtrankt von eincr bewußten Durchgeistigung der
Ausdruckümittel. Das Sinnenhafte, Sinnliche packt ihn
bis zur Lebensstarre in der Griniasse. Er gab den Formen
ihre Rcife und letzte Ausdrucksmöglichkcit. Die künst-
lerische Form genügt ihm, die Schwingungen seelischen
Erlebens einzufangen. Er ist der letzte Künstler der
Spätgotik und zugleich der erste Künstler um der Kunst
willen.

Eine seltsame Auffassung des Malcrischen in der
Plastik erhielt durch ihn eine sinnenhafte Kraft des Aus-
drucks. Er bat die Sinne in eine neugeartete Beziehung
zum Plastischeu gesetzt.

Die nacktcn Körperformen sind es, die den Ausschlag
geben. Douverniann schmiegt das ganze Gewand an
den Körpcr an. Fest umschließt der Stoff wciche Nun-
dungen; wie naß klebt er an den Gliedern an. Die
Falten sind feine Striche, die nur da sind, die Rundung
der Formen sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das Auge
solgt den Faltenstegen, um in die Schichten des RaumeS
eindringen zu können. Aus dem Gefühl für das Plastische
entstand derart die linienbetonte Aeichnung.

Jm Plastischen aber drängt alles zuni Malerischen.
Denn die Schönheit des Kubischen wird keineswegs in
der festen Form, in dem ruhigen Gefüge des Körpers
gefunden, sondern in der Bewegung der Massen, in den
 
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