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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 11
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Schäfer, Wilhelm: Aus der Jugend Heinrich Pestalozzis
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0399

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Aui der Jugmd Heinrich Pestalozziß.

3.

Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach
Höngg, wo der Großvater als Pfarrer amtet. Sie
brauchen keinen Bauernwagen dahinaus, sie gehen durch
die Niederdorfporte auf die Schafshauser Straße und
dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis
an den Hügelrand, wo nach einer Stunde das Dörfchen
mit der sauberen Kirche und dem Pfarrhaus erscheint.
Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen durch das
breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile
Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft,
steht vor der Helligkeit der Berge und gegen das blanke
Wasser die Stadt Aürich mit ihren Mauern und Türmen
dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.

Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Bap-
tista angekommen ist und sie sich in dem unteren mit
spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von dem Staub
des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten
Herrn in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben
und ist in der Ecke des Pfarrhauses so eingebaut, daß
durch die breiten Fenster von Süden und Osten die
Helligkeit der weiten Landschaft hineinsieht und den
würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht
auf, wenn die Buben zu ihm hereinkommen, auch
dürfen sie nicht anders als einzeln gerufen zu ihm an
den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen, wie
sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unter-
wegs gewesen sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier
oben die Ehrwürdigkeit durch eine Aärtlichkeit zu ver-
letzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch sitzt, wo die
Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten
Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater,
der sie auf den Schoß nimmt und Scherze mit ihnen
treibt. Aber wenn sich allmählich aus dem Donnergott
des Großmünsters das Bild Gottes als eines himm-
lischen Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es
die Züge des Großvaters in der Studierstube, die dem
Bild ihr Wesen geben.

Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst
teilnehmen darf. Das Pfarrhaus ist an die Kirche so
angebaut, daß es mit dem Totenacker seitlich vom Dorf
und am außersten Rand des Hügels eine Art Gutshof
vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg
zugänglich ist. Durch den sieht Heinrich Pestalozzi
Sonntags die Kirchgänger kommen, sauber gekleidet in
ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen heller,
und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie
im Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es
nicht anders, als ob sich die dunkleren Stimmen der
Männer mit denen der Frauen und Kinder mischten,
und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles
zum Gesang der Gemeinde.

Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters
kennt, bleiben ihm auch die Worte seiner Predigt nicht
gar so fremd, so wenig er im einzclnen davon versteht.
Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen Kin-
dern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht,
aber der gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und
weil er niemals poltert, niemals auf den Rand der
Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt, bekommt
die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt
Heinrich Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von

der Empore mit hinunter; und weil er die Kirchganger
nachher nicht gleich den Aürchern in die dunklen Schlüfte
der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes
sich rundherum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt
er nicht daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hin-
bringen. Um so stolzer ist ihm zumut, daß er selber da-
nach im Pfarrhaus bleiben und mit dem Träger dieser
feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf — wo der Pfarrer
freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort
spricht, wie er auch an diesem Vormittag das Frühbrot
in seiner Studierstube nimmt und sich vor dem Gottes-
dienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine Mittags-
ruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater
wieder, der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis
vor das Tor der Stadt zurück begleitet; hinein geht er
seit dem Tode seines einzigen Sohnes nicht mehr gern.

So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise
Trennung amtlicher Würde von seiner gütigen Mensch-
lichkeit, daß sich für die Kindheit Heinrich Pestalozzis
das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.

4.

Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pesta-
lozzi im ländlichen Leben zu Höngg vertrautere Wege
aus der engen Stube als in der finsteren Stadt. Wo
jeder den andern kennt und die Großmutter wohl weiß,
mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt
sich leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst
Luginbühl und wird ihm bald ein sehnsüchtig erwar-
teter Führer in die hügeligen Gebiete bis an den Wald
am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten Limmat-
wiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten
Iürcher eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben
und Sonntags von dem Landvolk an Stricken mühsam
stromauf gezogen werden. Er trägt keinen stolzen Feder-
hut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und
barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prall-
rote Backen mit wasserhellen Augen; aber er weiß, wo
man am sichersten einen Specht bei seiner Klopfarbcit
belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater
arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in
Höngg; einmal geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und
sieht den bärtigen Mann gebückt in dem Gestänge sitzen.
Er hat nichts Ahnliches von menschlicher Arbeit gesehen;
Küfer, Cchmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht
die Bauern: alle schaffen mit den Händcn und bleiben
für sich selber frei; dieser Weber aber sitzt im Gestänge
seiner Arbeit als ein Teil von ihr, wie die Spinne ans
Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit den
Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu,
das aus dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher
beim Abendessen ausgefragt wird, wo er gewesen ist,
und anfängt, von dem Baumwollenweber zu erzählen,
will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von
dem Unglück dieser städtischen Neuerung — dies ist das
einzige, was Heinrich Pestalozzi von seinem Unwillen
versteht.

Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg ge-
blieben und kommt sich selber schon wie ein Landkind
vor, als ihn die Mutter wieder holt. Auch diesmal geht
der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen, von wo er
sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse

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