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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 11
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0411

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Literatenkunst verdarmnt. Jn den Gefilden des Geistes, wo sie
bcheimatet sind, hat die bürgerliche Allmacht kein Wunschrecht mehr,
es ist zu windig da für dre Iertgenossen der modernisierten Milch-
wrrtschaft. Aber trotz all der lieblichen Weiden und bämmelnden
Glocken da unten wird seine SehnsuchtLnot immer wiedcr das
Häuflein derer aufjagen, das durchaus nicht nur um des Spaßes
willen auf dem besagten Grat herumklettert, wo der Schritt un:
sicher und die Luft dünn wird.

Was sie da oben fuchen, könnte vielleicht einmal denen da
unten etwas anderes als eitle Narrheit sein; die Aeiten sind danach,
daß ein neues Pfingstfest des Geistes auch seinen Schein in die
Tälcr werfen rrröchte. Cs sind Herzen genug da, die seinen Tag
voraussagen; weil eine andere Gläubigkeit den Menschen nötig sei,
als die der ewigen Lebensversicherung. Wenn der Tag kommt,
werden freilich die meisten Schmetterlinge Paul Scheerbarts aus-
geflattert haben; bis dahin aber wird ihr klirrendes Gaukelspiel
noch manchmal einen Blick ablenken, der sonst schaudernd in den
Abqrund fiele. Reinhold Treu.

riseur Iünemann.

Von Robert Walser.

Sein Verstand war klein, und dabei hatte er es sich in den Kopf
gesetzt, den eleganten und großen Herrn zu spielen. Das kommt oft
vor und endet selten oder nie gut. Es kann ja auch nicht gut aus:
fallen, wenn das geringe Denkvermögen seine geringe Cxistenz
verachtet. Iünemann war Friseur, und als solcher war er zur be-
scheidenen Lebensführung verpflichtet, welche er jedoch wie ein
rechter Strudelkopf und Dummkopf geringschätzte. Der geringe
Verstand schätzt das Geringe gern gering, und dies ist sein Unglück.
Wir werden das sogleich sehen. Das Geringfügige ist ein hoher
Segen, aber hiervon wittern Leute nichts, die es hoch im Kopf
haben. Jünemanns Kopf war schwach. Das ist immer so: schwach-
köpfige Leute besitzen die heftigsten und stärksten Neigungen, über
den schwachen und armen Derstand hinaus zu leben, und sie geraten
dadurch in einen schrecklichen Streit mit ihren kargen Gaben. Cin
ärmlicher Kopf sollte auch mit der Armlichkeit vorlieb nehmen.
Sollte! Ia! Aber gerade der ärmliche, schwächliche Kopf will das
nicht, kann das nicht. Ein König kann's, cin Genie kann's, aber
ein Friseur Jünemann kann es nicht. Cin Philosoph, cin Künstlcr
kann's, aber FriseurJünemann war weder das cine noch das andere.
Er war ein rechtes fizefazes und fazefizes Großstadtkind, ein wirbeln-
dcr Wirbel, ein ungeduldiges armes Menschenkind. Cr war zu
wenig Mensch, zu sehr Friseur, zu sehr Wirbel, welcher hin und her
zwiebelt und wirbelt. Cin kläglicher unbedeutender Sturmwind,
der stets dahinsausen muß, weil ihm Ruhe und Sittsamkeit unheim-
lich, unerträglich sind. Gesetztheit und Gefaßtheit und Besonnen-
heit waren dem Jünemann unerträglich. Vielleicht war er krank.
Cs ist dies jedenfalls sehr schwer zu sagen. Iünemann und Jüne-
manns Pflicht waren Feinde. Er vermochte nur schwer still zu sein
und seine einfache Arbeit zu verrichten, was schon ein großes Leiden,
ein großes Unglück ist. Stets trieb es ihn über die Schlichtheiten
seines Berufes hinaus in ein Glänzendes, Gleißendes, Prahlerisches
hinauf, wo er keinen Boden hatte. Enthaltsamkeit ist solchen Leuten
ein Greuel, ein Niebegriffenes, ein Nieverstandenes. Korrekt zu
sein: du mein Gott, sie möchten lieber sterben als honett und korrekt
sein. Sie sind mit dem unordentlichen Kopf in einem Meer; sie
sind von den Wellen aller Torheiten erfaßt, und nun treiben sie
dahin, verschwommen, verworren, vergraben, verschüttet, ein
Segelschiff ohne Führer! Sie leben im Abgrund und meinen, daß
das großartig, schön, gut und vornehm sei. Das Vernünftige ver-
achtet ein unvernünftiger Mensch, und diese Verachtung ist eben
sein Abgrund, und wer Augen hat, zu sehen, sieht hierin die ,,Ge-
walt des Schicksals!" Jünemann war von des Schicksals Gewalt mit
fortgerissen worden, und er merkte das gar nicht. Das merkt
einer nie! Wie alle die, die gesonnen sind, cin flottes, feincs Leben
zu führen, verkehrte Friseur Jünemann auf der Rennbahn, wo er
bald Geld gewann und bald verlor. Auf der Rennbahn versammelt
sich alles, was gern ein großer Herr sein und das Leben nur als
eine Flucht und Reihenfolge von Vergnügungen und netten Ge-
nüssen betrachten und empfangen möchte. Cr hatte eine Geliebte.
Ci, das HLtte gefehlt, wenn Friseur Jünemann keine hübsche
Geliebte gehabt hätte oder hätte haben sollen. Das wäre ja ein
Unrecht, eine Vergewaltigung an des Friseur Iünemanns Menschen-
rechten gewesen. Lieber hängen oder gleich erschießen HLtte er sich

mögen, als keine hübsche Freundin besihen. Lieber wollte er ein
Hund oder eine Eidechse oder ein Laubfrosch sein, als nicht zu den
Leuten gehören dürfen, die „zu leben wissen". Der Strohkopf will
zu den Leuten zählen, welche zu leben wissen. Oho! hierzu ge-
hört einigermaßen Kopf; Jünemann aber besaß wohl einen Kopf,
aber nicht das, was man „Kopf" nennt. Das Mädchen war eines
Bäckermeisters Tochter und war schön und üppig, und nun hättc
da alles auch hübsch glatt sich abwickeln sollen, aber es wickelte sich
nicht hübsch und glatt ab. Sie quälte ihn, sie zog ihn an, verlockte,
ermunterte ihn und stieß ihn wicder zurück, bereitcte ihm, wie er
später in den Gerichtsverhandlungen mit stotterndem Armen-
Sünder-Mund aussagte, viele Peinlichkeiten. Sie war sinnlich
und zugleich übersinnlich, mystisch, phantastisch. Das verirrte, ver-
wirrte ihn, machte ihn toll, nahm ihm ganz das Gehirn hinweg.
Sie schmeichelte ihm, und wiederum verletzte sie immer wieder
seine hochhinaufschwellende Eitelkeit und Eigenliebe. Leute, wie
Jünemann, sind insofern gefährliche Leute, als sie Herren zu sein
sich längst gewöhnt haben sich einzubilden. Solche Herren wollen
nicht sanft warten, wie ein menschliches Verhältnis sich entwickle,
nein, sie werden ungestüm, sie fallen in vornehme blutige Rasereien.
„Töte mich doch, wenn du den Mut hast," soll, wie Iüneinann aus-
sagte, das Mädchen zu verschiedentlichen Malen bei mehreren
quälerischen Anlässen zu ihm gesagt haben. Cines Tages, um die
Feierahendzeit, als es schon anfing in den Straßen zu dunkeln,
ging, so seiner Gewohnheit gehorchend, Friseur Jünemann wieder
hin zu ihr, in den Laden, wo sich zwischen Beiden abermals der
dumpfe, gewitterschwüle, überreizte Streit entspann, wobei Cines
das Andere matt und müde ärgerte, und wobei doch Keines eigent-
lich wußte, weshalb es das tat oder tun mußte. Da riß ihn der
Iorn, Lie Ohnmacht, das bleierne Verhängnis aus aller Vernunft,
es lag ein Brotmesser auf dem Ladentisch, er packte es, und mit
den Worten: „da hast du, was du begehrst, du Teufel!" stieß er
es ihr in die Brust, his an das Heft, daß das warme rote dunkle
Blut heraus und ihm ins Gesicht spritzte, ihn völlig besudelnd
mit der Farbe der begangenen Cntsetzenstat. Er riß das Messer
heraus und lief laut schreiend fort, hinaus auf die Gasse, wo Leute
ihn aufhielten und festnahmen. Das Gericht verurteilte ihn zum Tode.

andbuch der Kunstwissenschaft*.

Der Crneuerung des Kunstgefühls, darin wir seit cinigen Iahr-
zehnten begriffen sind, hat auch die Kunstwissenschaft folgen müssen.
Das ist nicht in hezug auf die zahlreichen Bücher zur modernen
Kunst gemeint, die von Muther bis Meier-Gräfe weniger wissen-
schaftliche Darstellungen als ästhetische Streitschriften sind, obwohl
auch sie den veränderten Austand anzeigen, der ebensowohl in
einer vertieften Bearbeitung der ästhetischen Begriffe wie in einer
Erweiterung des geschichtlichcn Stoffgehietes deutlich wird. Wenn
man will, kann man cs äußerlich als eine Erneuerung der Romantik
bezeichnen: von neuem sind die Antike und ihre Wiedergeburt in
der Renaissance bis zum Überdruß abgewandelt und eine wahr-
hafte Sehnsucht wendet sich den Zeiten und Gebieten zu, die ge-
wifsermaßen im Schatten dieser helldurchleuchteten Kreise liegen,
wobei von neuem das Mittelaltcr zum beliebtesten Gegenstand
der Forschung wird. Freilich nicht in jenem dilettierenden Cnt-
deckergefühl der Romantiker, das Lebensbild einer alten Herrlich-
keit hervorzuzaubern, vielmehr in eir er fast ingrimmigen Ent-
schlossenheit, die verstärkte Cnergie der Forschung auf ein Gebiet
anzuwenden, das mit breiten Strecken noch unerforscht im Dunkel
liegt.

Wie sich das Wunder dcr nordischen oder sagen wir getrost
germanischen Kunstblüte im Mittelalter aus den Nachklängen der
Antike zur absoluten Selbständigkeit erhob, wie aus der byzantini-
schen Starrheit die Lebendigkeit der Gotik wurde: dieser Werde-
gang, der den Romantikern übcr dem Genuß der Erscheinung gleich-
gültig war, ist zu einer Art Lebensfrage der deutschcn Kunstgcschichte
geworden. Iiemlich in einem Jahrtausend müssen die vielfach vcr-
schütteten Wege der Kunst gesucht und ausgegraben werden, ohne
daß mehr als gefühlsmäßige Ahnungen der einzelnen Strccken vor-
handen waren. Die überdies notwendige Neueinstellung der künst-
lerischen Anschauung macht die Unternehmung zwar interessanter,
aber nicht bequemer.

* Akademische Verlagsgesellschaft, G. m. b. H., M. Koch,
Berlin-Neubabelsberg.

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