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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 1 (Erstes Aprilheft 1914)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht [7]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0010

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aber auf eine andere, eine fremde, eine angster-
weckende Weise! und nnd ich hätte mich mit einem
Ruck aufgerichtet: liebster Schatz, Annie, aber
Kind, was hast du doch nur, wie deine Wangen
gMihen, du siehst aus, als hättest du Fieber, friert
dich —: ja, du zitterst ja am ganzen Leib, mein
Lieb, beeiie dich, du mußt gieich ins Bett, komm,
aber du schwankst ja auf den Füßen, iaß mich dich
hintragen, ach, Qeiiebte, habe ich dich jetzt auf
meinen Armen, wie bist du ieicht zu tragen, so
schön und so ieicht, wie paßt du herriich in meine
Arme — äber, nein, beeiien wir uns, nicht wahr,
komm, ich heife dir das Kieid ab, deine Stiefei,
ach Qott, wie du überah brennst, wie Feuer —
so, so, nur ruhig, ich bin ja bei dir, ich komme ja
gfeich wieder zurück, ich iaufe nur hinein und teie-
phoniere nach dem Arzt! . . .

Wäre das wirkiich eine geringere Qua! ge-
wesen — aHes dieses?

Wenn sie monateiang da drinnen krank geiegen
hätte, sich auf dem Kissen hin und her werfend,
ohne Ruhe finden zu können — oder beängstigend
stiü daiiegend mit unhörbarem Atemzug, mit
schweißperiender Stim und fahier Haut, die großen
Augen so heiß, mit einem Blick, den ich nicht
kannte, einem wiiden und beständig suchenden
Biick — stöhnend, vom Fieber verheert, das Gold-
haar an ihrer Wange, an ihrer Schulter k!ebend!
unter wahnsinnigen Träumen zitternd, die sich mit
einem Sprung auf ihre Brust gestürzt hatten und
ihren Hals mit langen Fingern umklammerten!
'W^enn ich jeden Tag in Schrecken auf den Arzt
hätte warten müssen, mit zusammengepreßter
Kehle seinen Worten hätte lauschen, atemlos den
Ausdruck seiner Lippen, seiner Augen, seiner
Tfände, seines Qanges hätte erspähen müssen —
und die Bedeutung des Unlesbaren, das er auf das
Rezept schrieb, und das die tränenverschleierten
Blicke noch weniger als je zu deuten vermochten!

Wenn ein Tag nach dem anderen ohne Besse-
rung vergangen wäre, Nacht für Nacht, wo das
Fieber stieg und die Kräfte schwanden — und sie
ausgemergelt da drinnen lag, weiß, so durch-
sichtig weiß, mit murmelnden Lippen, hin und wie-
der mit einem Schrei auffahrend., mir beschwer-
lich mit jedem Blick folgend, wenn sie bei Be-
sinnung war, heftig bestrebt in ihrer Ohnmacht,
mich nicht noch ängstlicher zu machen — tod-
miide, ja, zum Tode ermiidet auf das Lager zurück-
sinkend, wenn sie nur einen einzigen Satz ge-
flüstert hatte! Tag für Tag und Woche für Woche,
ohne schließlich weder essen noch trinken zu
können, in Betäubung daliegend, in einem entsetz-
iichen Zustand, der weder Leben noch Tod
war!? . . .

Mein Qott!

Wäre es wirkiich beser gewesen, wenn sie
mir so genommen worden wäre — statt dessen,
was kam?

Qder würde nicht mein Herz auf ebendieselbe
Weise gezittert und geschrien haben, wie es das
jetzt tat — wenn sie auch dort in ihrem Bett ge-
storben wäre, mit ihrem Kopf auf meinem Arm
ruhend, das mächtige, goldene Haar verwelkt und
verblaßt, die Qlut der Augen erloschen, mit iiber-
mäßig magern Fingern beständig nach meiner
Hand tastend — ohne fühlen zu können, daß ich ja
die ihre schon zwischen den meinen hielt! angst-
voll, ieidvoll, und unaussprechlich matt, bestrebt,
mit dem blinden Blick mein Antlitz zu finden, mir
noch ein letztes Mal zu sagen —: daß ich sie nie
ioslassen dürfe! daß sie noch nicht von hier fort
wolle, daß ich tun mtisse, was in der Macht eines
Menschen stünde, um sie fest zu halten, ach Qott,
hörst du, Qlaß, ich werde auf einmal so grauenvoll
bange, ich kann nicht mehr hören noch sehen, wo

bist du, was für eine Dunkelheit Iegt sich da über
mein Qesicht, es erstickt mir den Atem, Hilfe,
Qlaß, ich sterbe!.

Würde das weniger schlimm gewesen sein —
als das andere?

Würde es wirklich?

Wiirde es?

Er beugte langsam, mit klappernden Zähnen,
den Kopf noch tiefer vornüber; strich mit den Hän-
den zitternd über sein Antlitz; hörte in seinem Ohr
sein Stöhnen —:

Nein, durchzuckte es ihn; er erhob sich plötz-
lich mit einem Ruck, schwindelnd, das Herz wahn-
sinnig zerris&en, zu einer einzigen^ blutenden
Wunde —: Nichts wäre schiimmer noch besser
gewesen — nichts von alledem! VoIIständig
gleichgültig, ob es auf die eine oder die andere
Weise geschehen wäre —: alles in gleichem Maße
maßlos grauenvoll!

Ei, ei —:

Nun, so also war es zu leben!

Zu leben bestand mit anderen Worten aus
nichts weiter: als mühselig, unter zahllosen Qua-
len, lieben zu lernen, wenn man überhaupt jemals
so weit gelangte — und dann im selben Augen-
blick, wo das erreicht war, erfaßt zu werden von
dem Entsetzen bei dem Qedanken, verlieren zu
müssen! Ach Qott, was bedeutete es, ob die Qrau-
samkeit eine Sekunde oder eine Woche währte,
ob es heute kam oder erst in einem Jahr, ob ein
Körnchen mehr oder weniger von dem Qrauen-
vollsten darin war. Jetzt verstand er erst, jetzt
begriff er erst allen Ernstes, warum jener Satz,
den der Aufseher ausgesprochen hatte, sich so un-
vergeßbar in seinen Qedanken eingehakt hatte: ach
ja, ganz einfach, nicht wahr: da lag ja die strau-
chelnd schlichte Antwort —:

Warum klammerte sich wohl der Mensch an
das Ungliick — hatte er gefragt, dieser Tor, der
nicht sehen konnte!

Ja, aus dem unendlich zuverlässigen und guten
Qrund: daß es überhaupt nichts anderes gab! Wo
m'an auch in der Welt suchte — nirgends fand man
irgend etwas anderes, als Qual, als Jammer, als
Entsetzen, als das einzige, Millionen Jahre alte,
alles überwältigende, unbarmherzige und unge-
heure Ding: das Unglück!

Er hatte einen heftigen Schritt vorwärts auf
dem knirschenden Kies getan, stand da, den einen
Fuß oben auf dem Rand des BoIIwerkes, beide
Arme plötzlich nach der Seite hingeschleudert, in
seinem ganzen Wesen nur clies eine denkend, nur
dies eine empfindend, das er jetzt auf einmal mit
weit zurückgeworfenem Nacken laut ausrief —:

„Nein!

Das Unglück!

Weiter gibt es nichts!"

Aber da, noch ehe der Widerhall des Rufes sein
Ohr getroffen hatte — geschah es zum zweitenmal,
ebenso wie vorhin, daß seine Qedanken wie in der
Bahn eines Kreises sich blitzschnell gegen ihn
selbst kehrten —:

Ja!

Anni!

Sie hatte er vergessen!

Während er hier stand, sich selbst mit leeren
Worten bejammernd — hatte er Annie vollkom-
kommen vergessen!

Hatte nicht eine Sekunde seine Erinnerungen
an all das Glück bewahrt, das sie ihm elf Jahre
hindurch überschwänglich gespendet hatte!

Hatte undankbar brutal aus seinem Qedächtnis
all das schwindend Qroße gestrichen, was er ihr
schuldete! Hatte gemein an sie gedacht — als habe
sie ihm gar nichts weiter gebracht als den Schmerz,
da sie ging!

Aber nicht genug damit —:

Hier stand er außerdem, bis zum Ekel sich ht
sich selbst einhüllend, ohnmächtig und nichtswürdfg
'darüber nachgrübelnd, was wohl das beste für
gewesen wäre — wenn sie auf dem Fleck gestor-
ben, wo sie zu sein liebte, oder wenn sie ermordat
worden wäre!

Wenn sie in seinen Armen, nahe an seinew
Herzen, seinen Mund über dem ihren gestorb^
wäre — oder wenn sie, jäh, kaum zu der Zbitt
gelangt, wo das Dasein ihr nicht nur Freude,
sondern auch Freuden bot, ohne das geringste da-
von zu ahnen, plötzlich eines Nachts von einem
unbekannten Tier erdrosselt werden sollte! Dü#
sie, allein in der Dunkelheit, weit entfernt von Hilfe,
mit Nerven, die ihr Fleisch mit Flammen peitschten,
wahnwitzig wild, ach, unsagbar mit Abscheu er-
füllt, mit namenlosem Qrauen und Haß in alle*
Fibern — von Alörderhand getötet worden war^
besudelt, mißhandelt, zerfleischt . und geschändet,
mein Gott, mein Qott, wie war es möglich, daß däs
geschehen konnte! Höre mich, Hilfe, ich kann nicht

mehr.. dunkel... ich falle_ mein Herz . . . -

Annie, ich.

Langsam öffnete er seine Augen.

Hatte nach und nach ein unbestimmtes Gefühl,
daß es gewiß ganz dunkel, kohlschwarz hier vof
ihm geworden war.

Mochte jedoch nicht darüber nachdenken, fühlt#
sich rätselhaft beschwichtigt, so wunderbar voHeF
Frieden, so samtmild wohlig in allen Qliedern — als
liege er in seinem Bett und schlafe!

Wie war es wunderbar weich überall, alles u*s
ihn her, oben wie unten, so herrlich, ach wenn es
doch immer so sein könnte wie jetzt, o, segelte er,
lag er, so lang wie er war in einem sehr feine*
Boot und glitt mühelos einen kohlscbwarzen Strom
hinab, der ihn leise auf und nieder schaukelte, ewig
auf und nieder!?

W,ie war es gut auszuruhen so wie jetzt. 5*
sanft und leidlos mit dem Fluß dahin zu schwim-
men. Unmerklich und blind, Fuß um Fuß auf seine*
Wellen dahin getragen, seinem unendlichen Zi^,
dem seligen Ziel entgegen — einer königliche*
Küste entgegen, dem fernen, dem fremden, dem
märchenhaft schönen Land entgegen, wo allea
schwarz ist und von Seide, wo man nichts sehe*
und nichts hören kann, frei von Qeruch und Qe-
schmack, und befreit davon, die Nähe der ander*
zu spüren! Willkommen, mein Qott, willkomme*,
du gastfreie Stätte, die ich so lange gesucht haba
.— und von der die dunklen Vögel mir so oft b*-
richtet haben!

Ach, jetzt war er denn also in den Schutz des
Daseins gelangt, in den großen und ruhigen Schat-
ten des Lebens, außerhalb des Schmerzes und
außerhalb der Lust! Jetzt saß er befreit und wußte
sich daheim — siehe, über den Zinnen der Berge,
da draußen, stand eine silberweiße, ruhige Wolke
unbeweglich still und schimmerte, die Luft war so
kühl und hoch jetzt überall, so durchsichtig klar —
wer aber war die strahlende Qestalt, die er hie%
gewahrte, und die ihm so gut gefiel —: Komm,
komm, du leuchtender Dämon da hinten, komm und
setze dich an meine Seite! auf der Rasenbank hier
wollen wir sitzen, du und ich, wie bist du über-
irdisch schön, wie ist dein Qewand blendend wei!
wie eine Sonne, oder ist es im innersten Inner*
purpurfarben wie ein Blut, oder ist es ganz aus-
wendig schwarz wie eine Nacht! Oh, wie durch
einen Diamant kann ich jetzt dein Herz goldig
lodernd da drinhen sehen, du weißt nicht, wie ger*
ich dein Herz küssen möchte, aber höre jetzt, er-
zähle mir, wie du heißt... nein, sage es wieder;
und noch einmal bitte ich dich. Und von neuem —
denn es ist ein so merkwürdiger Name, so voll un-

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