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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 3.1886

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Minor, Jakob: Goethes Jugendentwicklung nach neuen Quellen, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.52691#0628

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618 Goethes Jugendentwicklung nach neuen Quellen.

Hallenſer Anakreontik ſo nahe verwandt, daß eine Berührung und
Vermiſchung der Gattungen in Leipzig nicht hintanzuhalten
war. Der volkstümliche Reim wird hier auch dem anakreontiſchen
Liede zu teil: Goethe, welcher in Frankfurt reimloſe Anakreontika
gedichtet hatte, bedient ſich in Leipzig gleichfalls des Reimes.
Volkoͤtümliche Motive, ja ſolche, welche direkt an das Volkslied
gemahnen, finden Eingang. Die Perſon des Dichters, welcher ſein
Publikum anredet, tritt nicht ſelten hervor. Goethe wendet ſich in
dem erſten und letzten ſeiner zwanzig Lieder mit der Schluß—
ſtrophe als Dichter an den Zuhörer und Leſer, wie auch in den
Voltsliedern die letzte Strophe gern dem Dichter gewidmet iſt.
Ein melodiöſer ſangbarer Rhythmus wird wenigſtens ange—
ſtrebt . . . Auf dieſe Weiſe ſtellt die Leipziger Anakreontik die
Verbindung zwiſchen der eigentlichen antikiſierenden Nachbildung
des Anakreon und den verſchiedenſten mehr oder weniger volks—
tümlichen Liedergattungen her. Sie trifft zunächſt mit Hagedorn
zuſammen und wiederum wie im 17. Jahrhundert ſind Leipzig
und Hamburg durch die Pflege des leichten Liedes miteinander
verbunden. Sie bekührt ſich mit Günther und der ſtudentiſchen
Poeſie überhaupt: Goethes „Unbeſtändigkeit“ erſcheint als Vach—
bildung eines Güntherſchen Liedes, obwohl direkte Beeinfluſſung
keineswegs über allen Zweifel iſt. Auch die auf dem Theater in
Poſſenſpiele eingelegten Arien und Geſänge gehören derſelben
Richtung an, wie denn auffällige Uebereinſtimmungen ſchon zwiſchen
den Kurz-Bernardonſchen, auf der Wiener Hofbibliothek befindlichen
„Teutſchen Arien“ und einzelnen Goetheſchen Liedern nachgewieſen
worden ſind.

Aber der Charakter des Liedes iſt in der Leipziger Anakreontik
keineswegs ſicher feſtgehalten; ſie ſtellt keine reine Gattung der
Lyrik dar. Sie hat im Gegenteile viel nähere Beziehungen zu
Dichtungsgattungen, welche dem ſangbaren Charakter des Liedes
feindlich gegenüberſtehen.

Zunächſt zu dem Epigramm. Viele der Goetheſchen Liebeslieder
laufen in eine epigrammatiſche Spitze aus. Man weiß jetzt, daß
Goethe ſich in Leipzig auch mit der Madrigaldichtung in franzö—
ſiſcher Sprache abgegeben hat.

Daun mit der Idylle: ſchäferliche Motive kehren allenthalben
wieder; das loſe Treiben der Liebenden, das Spielen mit geraub—
ten Bändern und Küſſen, die naive Koketterie der Renaiſſance⸗
ſchäfer und Renaiſſanceſchäferinnen, die uns heute ſo geziert und
affektiert anmutet, zu jener Zeit aber ein bedeutender Fortſchritt
zu dem war, was man in den ſiebziger Jahren Natur nannte,
 
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