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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 3.1886

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Minor, Jakob: Goethes Jugendentwicklung nach neuen Quellen, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.52691#0630

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620 Goethes Jugendentwicklung nach neuen Quellen.

Die nächſte und innigſte Verwandtſchaft aber hat die Leipziger
Anakreontik zu der Satire, welche die Lieblingsgattung der Leip—
ziger Dichter in der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts war.
Die moraliſchen Wochenſchriften, die Rabenerſchen Satiren, die
typiſchen Charaktere des ſächſiſchen Luſtſpiels, die Gellertſchen.
Fabeln — alle dieſe Gattungen dienen nur der Welt- und Menſchen—
fkenntnis der Kleinpariſer zum Ausdruck; ſie enthalten alles das
in Summa, was man in Leipzig „Erfahrung“ nannte. Der junge
Goethe erwähnt Rabeners in ſeinem erſten Brief; er empfiehlt
ſeiner Schweſter an Stelle der Richardſonſchen Romane den eng—
liſchen „Zuſchauer“ zur Lektüre; er entwirft nicht nur in ſeinen
Briefen kleine Charakterbilder, ſondern wir wiſſen jetzt auch,
daß er eine Satire auf allgemeine Fehler geſchrieben hat. Im
Epigramm und in einer beſtimmten Form des Liedes faßte man
die weitſchweifigen Charakterbilder der Wochenſchriften und Satiren
ins knappe und kurze zuſammen. Eine Reihe von Strophen
führen typiſche Fälle vor und werden untereinander mittels des
Refraines verbunden; oder man wählt die noch knappere Form

2. „Ohne Müh iſt ſelten Brot;
Freude ſelten ohne Not;
Kie ein Ehmann ohne Plage;
Kinder niemals ohne Klage:
Doch wünſcht jede, ſo wie ich,
Brot und Mann und Kinder ſich.“

Mit der zweiten der zitierten Strophen vergleiche man den Wechſelgeſang zwi⸗
ſchen Erwin und Bernardo in der erſten Faſſung von Goethes „Erwin und
Elmire“:
1. „Auf dem Land und in der Stadt

Hat man eitel Plagen.

Muß um 's bißchen, was man hat,

Sich mit'm Nachbar ſchlagen.

Rings auf Gottes Erde weit

Iſt nur Hunger, Kummer, Neid,

Dich hinaus zu treiben.“

2. „Erdennot iſt keine Not,

Als dem Feig' und Matten.

Arbeit ſchaͤfft dir täglich Brot,

Dach und Fach und Schatten.

Rings, wo Gottes Sonne ſcheint,

Find'ſt ein Mädchen, find'ſt einen Freund,

daß uns immer bleiben!“
Weiße gibt die Not des Lebens zu; jeder trägt ſie aber gern um der Freuden
willen. Goethe leugnet ſie; ſeine Kräfte brauchen, heißt nicht ſich quälen, ſondern
iſt und ſchafft Genuß. Das iſt Geiſt des Sturmes und Dranges und Ausdruck
der hohen Lebensführung, welche Goethe ſeit 1773 bethätigte.
 
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