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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 3.1886

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Gebhardt, Bruno; Zwiedineck-Südenhorst, Hans von: Politische und Kulturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.52691#0884

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874 Politiſche und Kulturgeſchichte.

jene Entdeckung und Erfindung auf einem Gebiete der menſchlichen
Thätigkeit gemacht habe.

Es iſt bekannt, daß man vielen unſerer Hiſtoriker und dar—
unter dem weitaus größten, den wir beſaßen, zum Vorwurf ge—
macht hat, das eigentliche Volk exiſtiere nicht für ſie, nur die
großen Haupt- und Staatsaktionen bilden den Gegenſtand ihrer
Forſchung und Darſtellung. Bevor wir aber dieſem Vorwurf bei—
ſtimmen oder ihn zurückweiſen, müſſen wir uns klar werden, was
iſt politiſche Geſchichte, was iſt Kulturgeſchichte und inwieweit
iſt die letztere überhaupt möglich?

Politiſche Geſchichte iſt Staaten- oder Staatsgeſchichte. Ihren
Inhalt bilden allezeit diejenigen Ereigniſſe oder Handlungen, die
ſich auf die ſtaatliche Gemeinſamkeit beziehen, entweder in ihrer
inneren Entwickelung oder in ihren Verhältniſſen nach außen.
Mit dieſer Definition werfen wir alsbald den Begriff „diplo—
matiſche“ Geſchichte über Bord; ſie iſt bloß die eine Seite der
politiſchen Geſchichte, die andere bildet die Entwickelung der inneren
Verhältniſſe eines Staates. Es wird keiner leugnen, daß die
Neugeſtaltung des Verwaltungsorganismus in Frankreich durch
Richelieu ebenſo zur politiſchen Geſchichte des Staates gehöre,
wie ſeine Bekämpfung des Hauſes Habsburg, daß die Stein—
Hardenbergſchen Reformen ebenſo ihren Platz in der politiſchen
Geſchichtsdarſtellung finden müſſen, wie die ſpäteren Allianzver—
handlungen mit Rußland. Wie weit ſich die Aufgaben eines
Staates erſtrecken, brauchen wir hier nicht zu erörtern; es genügt
darauf hinzuweiſen, daß ſeine Ziele nach außen und innen ſich
richten müſſen und daß alles, was zur Erreichung dieſer Ziele ge—
geſchieht oder auch negativ hemmend eingreift, in die politiſche
Geſchichte hinein gehört.

Aber der Menſch hat nicht bloß ein ſtaatliches Sein, ſondern
lebt in der Geſellſchaft, in der Familie, als Individuum; er iſt
nicht bloß Mitglied einer politiſchen Genoſſenſchaft, ſondern auch
Glied einer religiöſen Gemeinſchaft, einer Berufsklaſſe, und die
Entwickelung aller dieſer und vieler anderer Richtungen der menſch—
lichen Exiſtenz will die Kulturgeſchichte in ihre Kreiſe ziehen. Es
herrſcht allerdings über keinen Begriff ſo viel Unklarheit und wird
mit keinem Worte ſo viel Mißbrauch getrieben, als mit dem
Worte „Kulturgeſchichte“. Was ſich nirgends in ein beſtimmtes
Schema einreihen läßt, wird gewöhnlich unter jene Rubrik ge—
ſchoben und die ſogenannten Kulturgeſchichten bieten ein Sammel—
ſurium von allem und noch einigem anderen ohne Syſtem und
Ordnung. Dieſe Unklarheit hat auch bis jetzt am meiſten bei—
 
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