Politiſche und Kulturgeſchichte. 875
getragen, daß die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Bearbeitung
überhaupt beſtritten wurde, um ſo mehr, als die Praxis noch kein
Werk gereift hat, das zur Widerlegung der Gegner geeignet wäre.
Der Hauptfehler liegt darin, daß der Begriff „Kultur“ in ſeiner
Ausdehnung ſehr ſchwer zu begrenzen und zu beſtimmen iſt, und
daß niemals ein organiſcher Aufbau der Kulturgeſchichte verſucht
worden iſt. „Kultur“ durch ein deckendes deutſches Wort wieder—
zugeben iſt nicht möglich; ebenſowenig wird es glücken, den Be—
griff logiſch zu definieren. Ausdrücke wie „Geſittung“ bezeichnen
zwar den Grundzug der ganzen Sache, laſſen aber nicht die
Richtungen erkennen, in denen ſich die Geſittung ausſpricht. Man
hat ſich mit Wendungen wie Sittengeſchichte, Leben und Sitten
eines Volkes und dergleichen zu helfen geſucht, Auskunftsmittel,
die nirgends einen vollen Erſatz bieten.
Kulturgeſchichte iſt im weiteſten Sinne Geſchichte des Menſchen;
das Individuum muß die Baſis ſein, von der ſie ausgeht und
ſtufenweiſe fortſchreitet. Dieſes hat ſie zuerſt auf ſeinem Lebens—
wege von der Wiege bis zum Grabe zu geleiten, in ſeinem äußeren
Daſein (Kleidung, Nahrung, Erwerb u. ſ. w.) und ſeiner inneren
Entwickelung (geiſtiges Werden, Unterricht und Ausbildung u. ſ. w.).
Die konzentriſchen Kreiſe, in denen dieſes Fortſchreiten vor ſich
geht, ſind ſchon oben angedeutet: die individuellen Exiſtenzen ver—
knüpfen ſich in der Familie, in der Geſellſchaft, im Staat, in der
Menſchheit als Geſamtheit. Die Stellung in der Familie iſt
zuerſt die des Kindes zu den Eltern und Geſchwiſtern, dann die des
Gatten oder der Gattin, die des Vaters oder der Mutter; die
Geſellſchaft ſchließt im engeren Sinne den Verkehr, im weiteren
Sinne ſoziale, kommunale, kirchliche Verbände ein; noch mannig—
facher ſind die Beziehungen des einzelnen zum Staat und die
Spitze der ganzen Pyramide bildet ſein Verhältnis zur Menſchheit,
hinaus über alle Schranken, die ſonſt das tägliche Leben um—
grenzen.
Natürlich nehmen ſich dieſe wenigen Andeutungen keineswegs
heraus, das Programm einer Kulturgeſchichte zu enthalten; es kam
nur darauf an, ihren Inhalt nach Möglichkeit zu beſtimmen, um zu
einer Grenzſcheide zwiſchen politiſcher und Kulturgeſchichte zu gelangen.
Die politiſche Geſchichte hat es alſo mit dem Staate, die Kulturge—
ſchichte in unſerer Auffaſſung mit dem Individuum zu thun; indem
aber die Individuen den Staat bilden, iſt der Berührungspunkt
zwiſchen beiden Gattungen vorhanden. Der Staat iſt nicht bloß eine
der vielen Erſcheinungen des Kulturlebens, ſondern die höchſte und
reifſte; die Geſchichte des Staates gehört alſo zweifellos in die
getragen, daß die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Bearbeitung
überhaupt beſtritten wurde, um ſo mehr, als die Praxis noch kein
Werk gereift hat, das zur Widerlegung der Gegner geeignet wäre.
Der Hauptfehler liegt darin, daß der Begriff „Kultur“ in ſeiner
Ausdehnung ſehr ſchwer zu begrenzen und zu beſtimmen iſt, und
daß niemals ein organiſcher Aufbau der Kulturgeſchichte verſucht
worden iſt. „Kultur“ durch ein deckendes deutſches Wort wieder—
zugeben iſt nicht möglich; ebenſowenig wird es glücken, den Be—
griff logiſch zu definieren. Ausdrücke wie „Geſittung“ bezeichnen
zwar den Grundzug der ganzen Sache, laſſen aber nicht die
Richtungen erkennen, in denen ſich die Geſittung ausſpricht. Man
hat ſich mit Wendungen wie Sittengeſchichte, Leben und Sitten
eines Volkes und dergleichen zu helfen geſucht, Auskunftsmittel,
die nirgends einen vollen Erſatz bieten.
Kulturgeſchichte iſt im weiteſten Sinne Geſchichte des Menſchen;
das Individuum muß die Baſis ſein, von der ſie ausgeht und
ſtufenweiſe fortſchreitet. Dieſes hat ſie zuerſt auf ſeinem Lebens—
wege von der Wiege bis zum Grabe zu geleiten, in ſeinem äußeren
Daſein (Kleidung, Nahrung, Erwerb u. ſ. w.) und ſeiner inneren
Entwickelung (geiſtiges Werden, Unterricht und Ausbildung u. ſ. w.).
Die konzentriſchen Kreiſe, in denen dieſes Fortſchreiten vor ſich
geht, ſind ſchon oben angedeutet: die individuellen Exiſtenzen ver—
knüpfen ſich in der Familie, in der Geſellſchaft, im Staat, in der
Menſchheit als Geſamtheit. Die Stellung in der Familie iſt
zuerſt die des Kindes zu den Eltern und Geſchwiſtern, dann die des
Gatten oder der Gattin, die des Vaters oder der Mutter; die
Geſellſchaft ſchließt im engeren Sinne den Verkehr, im weiteren
Sinne ſoziale, kommunale, kirchliche Verbände ein; noch mannig—
facher ſind die Beziehungen des einzelnen zum Staat und die
Spitze der ganzen Pyramide bildet ſein Verhältnis zur Menſchheit,
hinaus über alle Schranken, die ſonſt das tägliche Leben um—
grenzen.
Natürlich nehmen ſich dieſe wenigen Andeutungen keineswegs
heraus, das Programm einer Kulturgeſchichte zu enthalten; es kam
nur darauf an, ihren Inhalt nach Möglichkeit zu beſtimmen, um zu
einer Grenzſcheide zwiſchen politiſcher und Kulturgeſchichte zu gelangen.
Die politiſche Geſchichte hat es alſo mit dem Staate, die Kulturge—
ſchichte in unſerer Auffaſſung mit dem Individuum zu thun; indem
aber die Individuen den Staat bilden, iſt der Berührungspunkt
zwiſchen beiden Gattungen vorhanden. Der Staat iſt nicht bloß eine
der vielen Erſcheinungen des Kulturlebens, ſondern die höchſte und
reifſte; die Geſchichte des Staates gehört alſo zweifellos in die