Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 43.1932
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https://doi.org/10.11588/diglit.10798#0092
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Frank, Willy: Von Sitzmöbeln und vom Sitzen, [1]
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INNEN-DEKO RAT ION
VON SITZMÖBELN UND VOM SITZEN
Sitzen ist keine eindeutige Sache. Wir essen,
wir arbeiten und wir ruhen, wir plaudern,
wir erörtern, wir streiten und wir hören oder
sehen zu — alles in sitzender Haltung. Ein Haupt-
unterschied ergibt sich auf den ersten Blick: der
zwischen einer »aktiven« und einer »passiven«
Haltung. Man kann ihn bei Erörterungen im
größeren Kreise deutlich wahrnehmen. Zurück-
gelehnt hören die Teilnehmer dem Sprecher zu.
Sobald aber einem der Wunsch kommt, selbst in
die Debatte einzugreifen, löst er sich von der
Rücklehne und geht mit dem Oberkörper stoß-
artig nach vorwärts, um die Brust einstweilen
zum Atmen frei zu machen, aber auch um vom
Körper her sich selbst das Zeichen zum Angriff,
zum Vorstoß zu geben. . Offenbar hängt der
aktive Einsatz der Geisteskräfte mit der
»aufrechten« Körperhaltung eng zusammen. Ein
Schriftsteller behauptete, er sei zu einem echten
schriftstellerischen Ausdruck seiner Gedanken
erst durch die Schreibmaschine gelangt; denn
diese ermögliche eine aufrechte Körper- und
Kopfhaltung, während beim Handschreiben Kopf
und Rumpf gebückt seien, was den Menschen,
seiner persönlichen Erfahrung nach, geistig passiv
stimme. Schon Lichtenberg hat bemerkt, daß er
im Liegen ganz anders »dachte« als im Stehen.
Das Sitzmöbel für aktives Verhalten wird dem-
nach anders gebaut sein müssen als das Sitz-
möbel für das passive Verhalten. Der Sessel des
Zuhörers im Musikzimmer, der »Ruhestuhl« dürfen
eine große Zahl von Körperstützpunkten aufwei-
sen, d. h. sie dürfen so bequem wie möglich sein
und sogar bis zur Knie- und Kopfstütze gehen. Bei
dem »Stuhl für den Vortragssaal« muß bedacht
sein, daß ein Aufnehmen logischer Gedanken-
Folgen ein Mitverarbeiten geistiger Zusammen-
hänge ist und sich daher mit völliger körperlicher
Entspannung nicht verträgt. Für den »Stuhl am
Sitzungstisch« wird es nötig sein, daß er einen
sofortigen Übergang aus der Zuhörer-Haltung in
die Angriffshaltung ermöglicht (der früher beliebte
Klubsessel war für diesen Zweck denkbar un-
geeignet). . Der spezialisierte »Gesellschaftsstuhl«
tut gut, den Sitzenden immer in einer gewissen
Spannung zu erhalten. . . . (schluss folgt) w. frank.
INNEN-DEKO RAT ION
VON SITZMÖBELN UND VOM SITZEN
Sitzen ist keine eindeutige Sache. Wir essen,
wir arbeiten und wir ruhen, wir plaudern,
wir erörtern, wir streiten und wir hören oder
sehen zu — alles in sitzender Haltung. Ein Haupt-
unterschied ergibt sich auf den ersten Blick: der
zwischen einer »aktiven« und einer »passiven«
Haltung. Man kann ihn bei Erörterungen im
größeren Kreise deutlich wahrnehmen. Zurück-
gelehnt hören die Teilnehmer dem Sprecher zu.
Sobald aber einem der Wunsch kommt, selbst in
die Debatte einzugreifen, löst er sich von der
Rücklehne und geht mit dem Oberkörper stoß-
artig nach vorwärts, um die Brust einstweilen
zum Atmen frei zu machen, aber auch um vom
Körper her sich selbst das Zeichen zum Angriff,
zum Vorstoß zu geben. . Offenbar hängt der
aktive Einsatz der Geisteskräfte mit der
»aufrechten« Körperhaltung eng zusammen. Ein
Schriftsteller behauptete, er sei zu einem echten
schriftstellerischen Ausdruck seiner Gedanken
erst durch die Schreibmaschine gelangt; denn
diese ermögliche eine aufrechte Körper- und
Kopfhaltung, während beim Handschreiben Kopf
und Rumpf gebückt seien, was den Menschen,
seiner persönlichen Erfahrung nach, geistig passiv
stimme. Schon Lichtenberg hat bemerkt, daß er
im Liegen ganz anders »dachte« als im Stehen.
Das Sitzmöbel für aktives Verhalten wird dem-
nach anders gebaut sein müssen als das Sitz-
möbel für das passive Verhalten. Der Sessel des
Zuhörers im Musikzimmer, der »Ruhestuhl« dürfen
eine große Zahl von Körperstützpunkten aufwei-
sen, d. h. sie dürfen so bequem wie möglich sein
und sogar bis zur Knie- und Kopfstütze gehen. Bei
dem »Stuhl für den Vortragssaal« muß bedacht
sein, daß ein Aufnehmen logischer Gedanken-
Folgen ein Mitverarbeiten geistiger Zusammen-
hänge ist und sich daher mit völliger körperlicher
Entspannung nicht verträgt. Für den »Stuhl am
Sitzungstisch« wird es nötig sein, daß er einen
sofortigen Übergang aus der Zuhörer-Haltung in
die Angriffshaltung ermöglicht (der früher beliebte
Klubsessel war für diesen Zweck denkbar un-
geeignet). . Der spezialisierte »Gesellschaftsstuhl«
tut gut, den Sitzenden immer in einer gewissen
Spannung zu erhalten. . . . (schluss folgt) w. frank.