Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 43.1932
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https://doi.org/10.11588/diglit.10798#0447
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Ritter, Heinrich: Lebenstrieb-Mächte und Stil
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INNEN-DEKORATION
435
PROFESSOR Dr. CLEMENS HOLZMEISTER-WIEN OBERE DIELE IM PRÄSIDENTEN-PALAIS
LEBENSTRIEB-MÄCHTE UND STIL
Man hat im Lauf des 19. Jahrhunderts mehrfach
Versuche unternommen, einen »Stil« zu schaf-
fen. Baugedanken der Renaissance wurden mit goti-
schen Form-Elementen durchzuführen gesucht; im
Jugendstil, der in den Baugedanken konservativ war,
ergaben sich nur einige Ansätze zu dekorativer Dy-
namisierung, Verflüssigung; dazu kommen die ohn-
mächtigen Rückgriffe auf Barock und Biedermeier,
die in den 90er Jahren und später eine spielsüchtire
Generation von Baukünstlern beschäftigten.
★
Von einem gewissen Zeitpunkt an wurde das be-
wußte Suchen nach einem Stil aufgegeben -
und genau von da an begann sich ein Stil zu bilden.
Es ging mit diesem Stil, wie es mit der Perle ging, die
der große Kaiser in der chinesischen Legende ver-
loren hatte. Er sandte »Wissen« aus, sie zu suchen.
Aber Wissen fand sie nicht. Er sandte »Forschung«
aus, sie zu suchen. Aber Forschung fand sie nicht.
Schließlich sandte er »Absichtslosigkeit« aus. Und
Absichtslosigkeit fand sie. . Genau von dem Augen-
blick an, da sich die Absicht nur mehr auf Zweck
1932. XII. 4
und sinnvolles Bauen richtete - nicht auf eine zur
künftigen Kanonisierung bestimmte Zeitform—, be-
gann Zeitform sich zu entwickeln — im Schatten
gleichsam. . Was heute als Form unseres Bauens
und Wohnens vor uns steht, ist die erste, legitim-
geborene Leben-Fassung, die seit dem Auslauf der
biedermeierischen Form unter uns groß geworden ist.
★
Stil entsteht, wenn Lebenstrieb-Mächte einer
Epoche über das Bewußtsein Herr werden,
wenn sie das Bewußtsein in ihren Dienst nehmen.
Ein Wollen, eine Absicht spricht auch bei diesem
Vorgang mit, aber ein Wollen von der Art, die Alois
Riegl als das »triebhafte Kunstwollen« einer
Zeit, eines Volkes bestimmte. Das führt von der
Tiefe her zum Durchbruch von Haltungen, Ge-
sinnungen, von ethischen Entscheidungen,
die dann von selbst ins Bereich der »Form« hinein-
wachsen. . Unsere historizistische Betrachtung hat
das Wesen des Stils mißverstanden. Sie hat »Stil«
als ein ästhetisches Phänomen betrachtet, während
er stets ein moralisches Phänomen war. . h. ritter.
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PROFESSOR Dr. CLEMENS HOLZMEISTER-WIEN OBERE DIELE IM PRÄSIDENTEN-PALAIS
LEBENSTRIEB-MÄCHTE UND STIL
Man hat im Lauf des 19. Jahrhunderts mehrfach
Versuche unternommen, einen »Stil« zu schaf-
fen. Baugedanken der Renaissance wurden mit goti-
schen Form-Elementen durchzuführen gesucht; im
Jugendstil, der in den Baugedanken konservativ war,
ergaben sich nur einige Ansätze zu dekorativer Dy-
namisierung, Verflüssigung; dazu kommen die ohn-
mächtigen Rückgriffe auf Barock und Biedermeier,
die in den 90er Jahren und später eine spielsüchtire
Generation von Baukünstlern beschäftigten.
★
Von einem gewissen Zeitpunkt an wurde das be-
wußte Suchen nach einem Stil aufgegeben -
und genau von da an begann sich ein Stil zu bilden.
Es ging mit diesem Stil, wie es mit der Perle ging, die
der große Kaiser in der chinesischen Legende ver-
loren hatte. Er sandte »Wissen« aus, sie zu suchen.
Aber Wissen fand sie nicht. Er sandte »Forschung«
aus, sie zu suchen. Aber Forschung fand sie nicht.
Schließlich sandte er »Absichtslosigkeit« aus. Und
Absichtslosigkeit fand sie. . Genau von dem Augen-
blick an, da sich die Absicht nur mehr auf Zweck
1932. XII. 4
und sinnvolles Bauen richtete - nicht auf eine zur
künftigen Kanonisierung bestimmte Zeitform—, be-
gann Zeitform sich zu entwickeln — im Schatten
gleichsam. . Was heute als Form unseres Bauens
und Wohnens vor uns steht, ist die erste, legitim-
geborene Leben-Fassung, die seit dem Auslauf der
biedermeierischen Form unter uns groß geworden ist.
★
Stil entsteht, wenn Lebenstrieb-Mächte einer
Epoche über das Bewußtsein Herr werden,
wenn sie das Bewußtsein in ihren Dienst nehmen.
Ein Wollen, eine Absicht spricht auch bei diesem
Vorgang mit, aber ein Wollen von der Art, die Alois
Riegl als das »triebhafte Kunstwollen« einer
Zeit, eines Volkes bestimmte. Das führt von der
Tiefe her zum Durchbruch von Haltungen, Ge-
sinnungen, von ethischen Entscheidungen,
die dann von selbst ins Bereich der »Form« hinein-
wachsen. . Unsere historizistische Betrachtung hat
das Wesen des Stils mißverstanden. Sie hat »Stil«
als ein ästhetisches Phänomen betrachtet, während
er stets ein moralisches Phänomen war. . h. ritter.