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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 50.1939

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Michel, Wilhelm: Kultur als Lebensbedingung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10971#0041

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Traum von der Südseeinsel nichts davon, daß ihre
Menschenform nur innerhalb eines hochkultivierten
Zustandes gewährleistet war. Sie beschuldigten die
Kultur als solche, wo es sich nur um einen bestimmten
geschichtlichen Fehllauf der kulturellen Entwick-
lur»g handelte. Und sie sind in aller Arglosigkeit
passive Genossen des kulturfeindlichen Jakobiner-
tums, das ein Jahrzehnt später der Welt ein so
schreckliches Schauspiel geben sollte. Nun, ihre Kul-
turflucht kam nicht zur Ausführung, weil schließlich
doch dem einen oder andern Bedenken aufstiegen,
als es Ernst werden sollte. Aber wie oft sind in andern
Fällen solche Pläne in die Praxis umgesetzt worden
- ein berühmter deutscher Fall ist z. B. Nikolaus
Lenau - und wie bezeichnend sind diese Fälle dafür,
daß es auch bei hochstehenden Menschen eine Un-
bekanntheit mit grundlegenden Bedingungen ihres
Daseins gibt! Noch Nietzsche, der so wichtige An-
triebe und Wertgesichtspunkte in die geistige Ent-
wicklung Europas gestiftet hat, fällt der eben be-
zeichneten Verwechselung zum Opfer. Er bemerkt
mit genialem Blick das Leiden seiner Zeit an der
»Kultur«, am »Geiste«; aber anstatt durchzublicken
auf den Grund, wo sich dieses Leiden als Folge einer
verkümmerten Lebensbeziehung des Geistes und
der Kultur enthüllt, hielt er - wie später Ludwig
Klages - den Geist als solchen für den Schädling.

Daher seine Kriegserklärung gegen die ganze höhere
Wertreihe, daher sein Verzweifeln an jeder denke-
rischen Erfassung der Wirklichkeit, überhaupt an
jedem vertrauenswürdigen Verhältnis zwischen Den-
ken und Sein, Geist und Natur.

Ist es nicht eine der großen geistigen Aufgaben,
die uns heute gestellt sind, daß wir ein für allemal
unsre gleichzeitige Verpflichtung auf Kultur und
Natur, auf Geist und Leben ins Bewußtsein nehmen?
Es gibt für den Europäer kein Entlaufen vor der
Kultur, sondern immer nur die Aufgabe, sie in
lebensrichtiger Fühlung mit dem Leiblichen und dem
Seelischen zu halten. Kultur ist die Ausprägung der
Menschenform in der Dingwelt, und ausgespro-
chene Kulturmüdigkeit ist nicht etwa nur Schwäche
oder Torheit, sondern eine Erkrankung der Lebens-
triebe. Es gibt für uns nicht die Wahl zwischen Kul-
tur und Natur, sondern nur die Wahl zwischen
richtiger, d. h. unsre Menschengestalt erfüllender
Kultur und einer kulturellen Fehlentwicklung, welche
diese Menschenform stört, wie es z. B. jeder dünne
Formalismus und jeder rohe Primitivismus tun. Kul-
tur - das sind wir selbst! Und die Kultur hat ein
Leben gleich dem unseren: wie wir an uns selber
arbeiten und uns weiterbringen, so müssen wir auch
an unsrer Kultur arbeiten und sie immer in Fühlung
mit unsrer Wirklichkeit halten. - Wilhelm michel

1939. I. 4
 
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