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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 50.1939

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Michel, Wilhelm: Das ungeschriebene Gesetz
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https://doi.org/10.11588/diglit.10971#0298

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DAS UNGESCHRIEBENE GESETZ

Es gibt nirgends ein Gesetz, welches verbietet, Sekt
aus Bierseideln zu trinken, und doch ist das uns-
rem Gefühl verbotener als manche moralische Fehl-
leistung. Denn über derlei Fragen waltet streng das
ungeschriebene Gesetz der Übereinstimmung zwi-
schen dem Was und dem Wie. Es ist vielleicht nur
ein Gesetz der Zivilisation. Aber wie töricht wären
wir, es geringzuachten! Richard Löwenherz - wenn
alte Erzählungen nicht lügen - fraß gelegentlich eine
gebratene Kalbskeule aus der blanken Hand und
wischte die Finger am bestickten Mantel ab. Mittler-
weile haben sich die Beziehungen zwischen gestick-
ten Geweben und fettigen Fingern etwas auseinander-
entwickelt, und wir tun nicht Unrecht, darin einen
Fortschritt zu erblicken, den wir festhalten wollen.
Zivilisation ist nicht der höchste Besitz der Mensch-
heit, aber sie ist eine wichtige Voraussetzung für
Besseres, eine tragfähige Grundlage. Man glaubte
früher aus der sehr unterschiedlichen Gestaltung,
welche Sitten und Bräuche, Tracht- und Tafelzere-
moniell in verschiedenen Völkern und Zeiten aufwei-
sen, den Schluß ziehen zu müssen: Also ist das alles
ernstlos und relativ. Das war aber ein falscher Schluß,
denn entscheidend ist nicht, daß das Zeremoniell von
Ort zu Ort wechselt, sondern daß es überall in irgend-

einer Form da ist. Was ist die sogenannte Kulturge-
schichte andres als ein verschwistertes Weitergehen
des Menschengeistes und der Sachgestaltung durch
die Jahrtausende, derart, daß die letztere zum erste-
ren so innig gehört wie das Werk zum Willen, wie
der Ausdruck zum Antrieb? Und wo hört bei dieser
Verschwisterung das Was auf, wo fängt das bloße
Wie an? Wenn Nahrung den Leib erquickt, zählt
dann die Erquickung des Auges durch schönes Tafel-
gerät nicht mit, gerade auch leiblich? Hausgestühl,
Tischgerät, Kleidung sind, von ihren praktischen
Diensten abgesehen, wie Gespräch; sie sind das höf-
liche Wort der Einladung, die darbietende, zurüstende
Gebärde, die lautlos wirksam werden und feinere Be-
ziehungen anspinnen, für die jeder empfänglich ist.
Gewiß ist Zivilisation nicht dasselbe wie Kultur; denn
jene betrifft nur die Einheitlichkeit der äußeren For-
men, diese aber den Zusammenhang zwischen den
äußeren Formen und dem inneren Wesen. Aber diese
Unterscheidung ist nur dann richtig verstanden, wenn
begriffen ist, daß Kultur die Zivilisation als eine
Selbstverständlichkeit einschließt. Nur wo Zivilisa-
tion sich schon für die ganze erreichbare Kultur hält,
wird sie das Enge und Törichte, das unser Streben in
höherem Ehrgeiz überschreiten muß. Wilhelm michel

essgeschirr »kaestner-porzellan« dekor: platinrand, unglasierte rotbraune henkel
ausstellung »deutsches wohnen 1939«. - aufnahme: hoffmann & (ursch, taggeselle
 
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