Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 50.1939

DOI Artikel:
H. R.: Das "Hüttchen der Kindheit"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.10971#0204

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
186

DAS »HÜTTCHEN DER KINDHEIT

Die kindliche Lebensstufe ist uns in ihrer relativen
Eigengesetzlichkeit erst seit kurzem zu vollem
Bewußtsein gekommen, und Ausdrücke dieser Be-
wußtwerdung sind das heutige Kinderzimmer und
die heutige Kinderkleidung. Gewiß haben Eltern
stets ihre Kinder geliebt, aber damit war lange Zeit
hindurch noch keine klare bewußte Anerkennung
der kindlichen Seinsweise gegeben. Was liegt alles
darin, daß die Kinderkleidung eigentlich bis an die
Schwelle der Gegenwart das Kind als ein Diminutiv
des Erwachsenen behandelte! Die Bauerntrachten
in aller Welt lassen dies besonders deutlich erkennen.
Das kleine Mädchen ist in der Tracht schon Frau,
der kleine Junge ein Mann. Zwar gesteht man dem
Kinde das Spielzeug zu, aber auch die Puppe, die es
in die Hand bekommt, bestrebt sich, ein Bild des
erwachsenen Menschen zu sein. Gerade im bäuer-
lichen Lebensbereich sieht man auch den geistigen
Hintergrund dieser Behandlung des Kindes: Straff
und unnachgiebig ist die ganze Denkweise auf das
Objektive gerichtet, wenig Beachtung wird dem
Einzelfall, dem Besonderen, der Ausnahme geschenkt;
die Regel gilt alles - und so auch die »Regel« des Er-
wachsenen gegenüber der »Ausnahme« des Kindes.

Dieser Grundeinstellung entsprechen die Folgerungen:
Man will das Kind möglichst frühzeitig in der Er-
wachsenenwelt heimisch machen. Man betrachtet die
ernsteste kindliche Lebensäußerung, das Spiel, als
Zeitvergeudung, und man bekommt die spezielle
kindliche Psychologie nicht einmal als Problem zu
fassen, so wenig wie man die Psychologie der Natur-
völker - und dies ist eine vollwertige Parallele -
in ihrer Eigengesetzlichkeit zu fassen bekommt.

Das moderne Kinderzimmer ist die späte Aus-
wirkung einer Bewußtseins-Entwicklung, welche aus
einem genaueren Begreifen des Eigenwertes »Leben«
auch dessen Stufungen achtsamer und liebevoller,
gerechter und sachtreuer begreift. Ihm öffnen sich
neue breite Zugänge zu der frühen Mahnung des
Dichters (Hölderlin): »Laßt von der Wiege an den
Menschen ungestört! Treibt aus der engvereinten
Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen
seiner Kindheit ihn nicht heraus! Jede Zucht und
Kunst beginnt zu früh, wo die Natur des Menschen
noch nicht reif geworden ist. Vollendete Natur muß
in dem Menschenkinde leben, eh' es in die Schule
geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rückkehr
zeige aus der Schule zu vollendeter Natur.« - h. r.
 
Annotationen