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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 11.1913

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Heft 9
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Fischer, Otto: Eine Landschaftsrolle des Sesshu
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https://doi.org/10.11588/diglit.4713#0477

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dient, die eine ältere und strengere Zeichnung durch
Jahrhunderte ausgebildet, angehäuft, verfeinert und
immer aufs neue bereichert hat. Es ist ein andeu-
tendes Bezeichnen mit dem Pinsel, der in der Art
des Hinsetzens von Strich und Ton analogisch die
erfühlte Wesensqualität der Dinge ausdrücken und
wirksam machen soll. Zugleich ist in der Fügung
des Einzelnen zum Ganzen eine natürliche Beobach-
tung vom Zusammenhang der Dinge, die Absicht
auf eine malerisch reiche und atmosphärisch an-
regende Bewegtheit der Erscheinung und endlich
das Prinzip eines mannigfachen überraschenden
Wechsels der Szenerien unverkennbar massgebend.
Offenbar ist nun für die Abfolge der Bilder ein
ganz bestimmtes Gesetz der Komposition bestim-
mend, ein Gesetz der rhythmischen Gliederung, ein
Gesetz von Übergang und Steigerung, von Spannung
und Lösung, wie es ein musikalisches Kunstwerk,
wie es etwa eine Symphonie durchwirkt. Man
bemerkt dies am deutlichsten, wenn man die Rolle
vom Ende nach dem Anfang zu abwickeln will:
wie sehr jetzt das Einzelne seine Notwendigkeit
verliert und wie der Zusammenhang des Ganzen
unverständlich wird. Es ist ein freies Komponieren
mit der Fülle innerer Naturanschauung, wie der
Musiker mit Klängen und Harmonieen komponiert,
doch immer nach einem durchwaltenden Gesetz des
zeitlichen Ablaufs. Eine genaue Betrachtung findet
eine regelmässige Gliederung. Das Ganze zerfällt
in vier Hauptteile, von denen jeder wieder in zwei
Unterteile gegliedert scheint. So ergibt sich das
folgende Schema der Komposition: I. Bäume, eine
Felsengruppe, Ausklang in die Ferne. WiederBäume,
wieder eine Felsengruppe, Bergtal und Bach, eine
Platte mit Tannen, Ufergebäude, Schiffe und See,
Ausklang ins Leere. II. Ufergrotten, eine Felsen-
gruppe, Ausklang. Pagode und Fels, eine Platte
mit Tannen, Felsengruppen mit Pavillons, Talblick
und Ausklang, III. Ufer einesSees, Gebäudegruppen,
Flussrand und Ausklang. Brücke, Felsenweg, ein
Grottenplatz mit Menschen, höhere Pfade, Ausklang.
IV. Winternebel, Tannen, eine kahle Mauer mit
Gebäuden darüber, Schneehöhen. Eine Platte mit
Tannen, eine kahle Mauer mit Gebäuden darüber,
Schneehöhen. Felswand und Bäume. Dann ein
Absturz, plötzlich, und nichts mehr. Die Analogie
der Abfolge in den ersten drei Teilen ist offenbar,
und ebenso ihre innere Gliederung, indem jedes-
mal zuerst ein kurzes Thema angeschlagen wird,
welchem dann ein breiter entwickeltes folgt. Ebenso
ist die Art der Cäsuren eine anologe: innerhalb der

Hauptteile ein Ausklingen des Angeschlagenen in
die Ferne, zugleich aber im Vordergrund schon
wieder das Anheben des neuen Themas — zwischen
den Hauptteilen selber eine grössere Pause, wo das
Einzelne in das allgemeine Gefühl von Atmosphäre
und Fernblick versinkt, und so zugleich dem Auge
nach der wechselnden Flucht der Erscheinungen eine
kurze Ruhe vergönnt ist. Nach dem dritten Teil
ist keine solche Pause, denn der vierte Teil selber
erfüllt nach der reichen Fülle des Ganzen dieselbe
Funktion der Beruhigung: hier ist alles breit hinge-
lagert, Schnee, Nebel, Schlaf und tiefe Versunken-
heit der ergreifende Eindruck. Auch dieser Teil
ist wieder in zwei Abschnitte gegliedert, doch nicht
durch einen ruhigen, sondern durch einen lebhaften
Zwischenaccent, und die beiden Abschnitte sind
ebensosehr gleich in ihrem Inhalt wie in ihrem
formalen Wert. Der Schluss ist abrupt: erst ein
Accent, dann ein plötzliches Abbrechen. Nach der
Mannigfaltigkeit der Bilder ein tiefes erlösendes
Schweigen das letzte, dann, unerwartet, das Ende.
Dies ist die Komposition.

Der Künstler weckt mit den Bildern der Land-
schaft eine Folge von Gefühlen, wie sie der Musiker
mit dem Auf- und Abschwellen der Töne wachruft.
Welche Beherrschung der bildnerischen Mittel,
welches Gefühl für die Tiefe der Natur, welche
Hingabe an ihr inneres Leben und Weben, welche
Höhe und Reinheit der Gesinnung ist notwendig,
damit dies in einem Werke der Malerei möglich sei!
Diesem Künstler ist die Kunst mehr als eine Dar-
stellung des Wirklichen, sie ist ihm mehr als der
Ausdruck zufälliger und vorübergehender Empfin-
dungen. Er gibt die Natur atmend bewegt und
ergreifend wie keiner, aber er gibt mehr als dies:
er lässt etwas wie ihren Herzschlag spüren und ein
geheimnisvolles innerstes Lebensgesetz ahnend er-
fühlen. Man fühlt, dies alles sei nur ein Gleichnis
und diese Bilderwelt selber nur ein Instrument, durch
das ein Tieferes zu uns redet.

Dies alles ist nicht des einen Sesshu Verdienst
und Geheimnis. Es ist der Sinn, den die Kunst
schon viele Jahrhunderte zuvor in China gewonnen
hat. Es ist die Anschauung und es sind die Aus-
drucksmittel der chinesischen Schwarzweisskunst,
wie sie zur Zeit der Sung-Dynastie zur reinen Blüte
sich entfaltet hat. Es ist die Gesinnung, welche die
Religiösen und die Einsiedler der Dhyanalehre zu-
erst in China und dann auch in Japan gereift und
gepflegt haben. Sesshu selber war schon als ganz
junger Mensch ein Priester dieser Sekte, er hielt

,rkc sind er=-

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