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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 21.1923

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Heft 1
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Pauli, Gustav: Alfred Lichtwarks Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4655#0036

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alles ansehen und dachte mir, wie sich die Kinder
und dann die Enkel zwischen all dem Obst wohl
glücklich gefühlt haben. — Jedenfalls ein Zug,
der nicht recht französisch ist, diese Freude an
einer großen Familie.

Darauf ging ich ins Haus, und wir setzten
uns in ein halbdunkles Zimmer, das von einer
Legion Fliegen bewohnt war. Der Hausherr ließ
Wein kommen, einen Bordeaux blanc anonyme,
das Geschenk eines Ministers, dessen Bild Pons-
carme gemacht hatte, ein herrliches Gewächs, das
wie Gold im Glase glühte und ganz unfranzösisch
ohne Wasser serviert wurde. Es wäre auch schade
gewesen.

Das gab Veranlassung zu einer gemütlichen
Aussprache. Wie Sie mich sehen — es war etwas
schwierig wegen der Fliegen, an die mein Wirt
wie an die Luft gewöhnt schien — habe ich
meinen Beruf verfehlt, sagte der Alte. Ich hätte
Philosoph, Gesetzgeber werden sollen. Sie lächeln,
mais je suis serieux. Sehen Sie, ich bin erst
Künstler geworden, nachdem ich zwei Jahre die
Soutane getragen habe. Ich war Priester, ca m'a
donne le goüt de la famille. Aber ich habe meine
künstlerische Tätigkeit immer nur als eine Äuße-
rung meines Wesens genommen. Ich habe über
alles nachgedacht (was übrigens die meisten franzö-
sischen Künstler mir sagten. Die Unterhaltung
geht mit allen sofort ins Philosophische). Vous
voyez un athee, Monsieur. Le Christ lui-meme
etait athee au fond. C'etait un beau parleur. Ne
l'a-t-il pas lui meme exprime clairement? Je suis
la parole, je suis l'alpha et l'omega.

Und so ging es weiter, sehr amüsant und

originell. Ich mußte mich in Acht nehmen, die
Fliegen nicht abzuschütteln, denn er nahm es
stets als eine Mißbilligung. Nachdem er mir sein
religiöses und politisches Glaubensbekenntnis ab-
gelegt hatte, kam er auf die Entwicklung einer
ganz neuen Verfassung, die er bis ins kleinste
und mit viel Geist ausgearbeitet. Soll ich sie
Ihnen mal vorlesen? fragte er, und dann mußte
ich sie von einem bis zum andern Ende anhören,
was übrigens sehr amüsant war. Schließlich ge-
lang es mir, ihn auf das Thema zu bringen, das
mich am meisten interessierte, wie es zugegangen
war, und wie er es angefangen hätte, die Bresche
in die Festung der administrativen Tradition zu
schlagen und die allmächtigen Beamten zur An-
nahme seiner umstürzlerischen Ideen auf dem
Gebiet der Medaille zu bringen. Das hat er mir
mit so viel Verve und so feinem Humor erzählt,
daß ich mir versprechen ließ, er wolle es mir
genau so aufschreiben. Manchmal war der Kopf
des alten Herrn ganz von Fliegen bedeckt, und
wenn er im Affekt das Haupt schüttelte, um-
summten sie ihn wie eine wolkige Gloriole. —
Den Entwurf zu seiner Verfassung habe ich mit-
gebracht. Es sind höchst interessante Gedanken
und Wendungen darin. Bis zwei Uhr hielt er
mich fest und brachte mich dann zur Bahn. Ich
hätte mich nicht sehr gewundert, wenn ich schließ-
lich als Fliege davongesummt wäre. Wir können
froh sein, daß es so abgelaufen ist. Beim Abschied
sagte er mir: Le Luxembourg n'aura pas mon
oeuvre, Hambourg l'aura.

(Fortsetzung folgt.)

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