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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Lamprecht, Karl: Einführung in die Ausstellung von parallelen Entwicklungen in der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0084

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Forschern auf diesem Gebiete selbst nicht von vornherein gemacht würden,
und daß ihnen nicht durch die entsprechenden Korrekturen begegnet sei.
Sie werden in der Ausstellung der Kinderzeichnungen die Frage nach der
Einwirkung höherer Milieus und fremder Rezeptionen auf die Kinder-
kunst eingehend in einer Reihe von Bildern behandelt finden. Im ganzen hat
sich dabei herausgestellt, daß eben auf dem Wege der Vergleichung sehr ver-
schiedenartiger Kulturen der Effekt dieser Einflüsse so weit beseitigt werden
kann, daß der eigentliche Grundtyp der Entwicklung mit Sicherheit hervortritt.
Doch es ist nicht meine Aufgabe, die hierher gehörigen Fragen nach der
jeweils erreichbaren Entwicklungshöhe der Kinderkunst, wie nach der ver-
schiedenen Kulturhöhe des nationalen Milieus, dem sie angehört, wie über-
haupt das Problem der inneren Entwicklung dieses neuen Gebietes der
Forschung zu behandeln. Hierzu wird Herr Dr. Kretzschmar selbst das Wort
zu ergreifen haben. Für uns ist an dieser Stelle nur die eine Erfah-
rung wichtig, daß auf dem Wege ontogenetischer Forschung zunächst eine
sichere Periodisierung der Entwicklung der Kinderkunst festgestellt ist.
Nun sind aber auf dem Gebiete der Völkerkunde und der Prähistorie
zwar nicht gleich gute Resultate zu erreichen; dazu ist die Überlieferung
zu lückenhaft. Wohl aber können für eine nicht geringe Anzahl von
Völkern einzelne Teile des gesamten Entwicklungsganges aus dem vor-
handenen Material auch in ihrer relativen Chronologie wiederhergestellt
werden. Vergleicht man nun den Entwicklungsgang dieser Teile mit dem
Entwicklungstyp der Kinderzeichnungen, so ergibt sich, daß beide der
Hauptsache nach identisch sind. Unter diesen Umständen läßt sich bei der
relativen Reichhaltigkeit der Fragmente auf völkerkundlichem wie prä-
historischem Gebiete die bestimmte Folgerung auf stellen, daß auch die
künstlerische Entwicklung in den niederen Kulturen noch der Gegenwart
wie in der Prähistorie nach den Prinzipien der Entwicklung der Kinderkunst
verlaufen ist. Es ist ein Gebiet der Forschung, mit dem sich in letzter Zeit
besonders die Herren Dr. Busse und Dr. Förster beschäftigt haben.
Wie sollte es auch anders sein? All den Entwicklungen, von denen hier
die Rede ist, liegen schließlich dieselben psychischen Motive zugrunde, und
wie wir für die größten Beziehungen des Seelenlebens an der psychischen
Einheit des Menschengeschlechtes festhalten dürfen, so ist es leicht
verständlich, daß auch die Entwicklung des Seelenlebens in homogener
Auswirkung verlaufen ist. Ein anderes aber ist es, solche Behauptungen
schlußweise aufzustellen, und ihr in Wirklichkeit Zutreffendes für Vergangen-
heit und Gegenwart zu beweisen. Dies letztere ist es, was nunmehr erreicht ist.
Indem aber nunmehr Völkerkunde wie Prähistorie einer allgemeinen
relativen Chronologie unterworfen erscheinen, sind sie überhaupt in den
geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet, sind sie vom kulturhistorischen
Standpunkte aus Teile der einen großen und unteilbaren Geschichtswissen-
schaft geworden. Die Möglichkeit einer historischen Auffassungsweise
größten Stils ist damit gewonnen, und die ersten Umrisse einer von aller
Weltgeschichte der Vergangenheit weit abweichenden Universalgeschichte
erscheinen am Horizonte einer nahen Zukunft.
 
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