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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Busse, Kurt Heinrich: Die Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0086

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Hauptanteil liefert — und aus Beiträgen der genannten Herren. Es sind in der
Hauptsache freie Gedächtniszeichnungen von Kindern aller Altersstufen und
verschiedener Kulturkreise ausgestellt; außerdem aber auch eine größere Anzahl
von Plastiken, freie Produkte von deutschen und afrikanischen Kindern. Für die
Aufstellung der Zeichnungen und Plastiken sind Herrn Kretzschmar folgende
Grundsätze maßgebend gewesen: Gegen die Verwendung der Kinderkunst
zur Erforschung der Gesetzmäßigkeiten in der Kunstentwicklung sind bisher
vor allem deshalb schwere Bedenken erhoben worden, weil man behauptet
hat, daß sich die natürliche Entwicklung des Kindes wegen der äußeren
Einflüsse nicht erkennen lasse. Dieser Einwand ist aber hinfällig,
weil er eine ganz falsche Bewertung dieser Einflüsse zur Voraussetzung
hat. Die Abhängigkeit von der Außenwelt ist nicht ein Hindernis der
Entwicklung, sondern eine unerläßliche Bedingung derselben; die Ent«
Wicklung ist das Ergebnis von Vererbung und Anpassung, von Anlage
und Kultureinflüssen. Das Kind ist dazu bestimmt, die Kultur seiner
Umgebung aufzunehmen, zu rezipieren. Es ist zwar zur Selbstschöpfung
befähigt, würde aber ohne die Möglichkeit der Rezeption auf einer niederen
Stufe stehen bleiben. Bei der Untersuchung der Kunstentwicklung des
Kindes muß man beide Faktoren in Betracht ziehen, die Entwicklung der geistigen
Anlage und die Entwicklung der Rezeption. Beide sind organisch mit-
einander verknüpft, da das Kind bei der Rezeption der Kunst seines Volkes an
den jeweiligen Stand seines geistigen Wachstums, insbesondere seines Beobach«
tungs- und Urteilsvermögens, gebunden ist. Die Ausstellung besteht daher aus
zwei Hauptgruppen. Die eine Gruppe zeigt, wie verschieden das geistige Wachstum
bei den verschiedenen Völkern und Rassen ist, wie es bei den Naturvölkern zu
frühzeitigem Stillstand gelangt und nur bei den Kulturvölkern weiterschreitet.
Die andere Gruppe zeigt, wie das Kind allmählich in die Kunst der Umwelt hinein«
wächst, indem es einerseits die nationale Kultur rezipiert, andererseits aber auch
fremdes Kulturgut zu assimilieren vermag — man vergleiche die europäischen
Einflüsse in Afrika, Indien und Japan. Für diese allmähliche Entwicklung des
Kindes sind schließlich noch historische Belege vorhanden; auch das Kind des
Altertums und des Mittelalters muß primitivere Stufen überschreiten. Das hier
Gesagte gilt sowohl für das Zeichnen, wie für die Plastik; auch die letztere läßt
deutlich das allmähliche Wachstum der Beobachtungsgabe und der Urteils«
fähigkeit, andererseits aber auch die allmähliche Kulturaufnahme erkennen.
So bewährt sich schon an der „Kindheit'"1 in der vollkommenen Übereinstimmung
der frühesten Stadien des künstlerischen Ausdrucks bei hohen und niederen
Völkern das eine Hauptgesetz der Evolution, daß alle Entwicklungsanfänge gleich
sind, während die fortschreitende Differenzierung sich nach dem Rhythmus des
individuellen geistigen Wachstums unter dem zunehmenden Einfluß der Eigen«
kultur und schließlich der fremden Einwirkungen vollzieht.

Die vergleichenden Gruppen
Im Gegensatz zu der monographischen Behandlung der ontogenetischen
Gruppe umfaßt die zweite Abteilung der Ausstellung die eigentliche synoptische
Darstellung der drei infantilen Entwicklungsreihen. Hier sollen die augenfälligen
Analogie-Erscheinungen in der Kunst der Naturvölker und des Urmenschen im
Vergleich mit den Erzeugnissen der Kinder veranschaulicht werden, wie sie sich in
den drei Hauptgebieten künstlerischer Betätigung, Ornamentik, Malerei und
Plastik darbieten. Ohne auf die Begründung der vergleichend-entwicklungs«
 
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