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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Zweite Allgemiene Sitzung
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Cohn, Jonas: Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0098

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

besonderen Art kultureller Tätigkeit, die nur nach dieser Wertart beurteilt
werden soll. Es könnte sein, daß ein in sich bedeutsamer ästhetischer
Einschlag unsere Naturauffassung, unser Handeln, unsere Sitten, unser
Reden und Schreiben durchdränge, ähnlich wie die Sittlichkeit überall sich
durchsetzen will, ohne daß doch ein besonderes Tun nur ästhetischen Werten
unterworfen wäre. Dies erst verstehen wir unter Autonomie der Kunst.
In diesem Sinne genommen ist nun die Autonomie der Kunst, als
Forderung wie als Wirklichkeit, eine geschichtlich junge Erscheinung. Bei
Goethe und Schiller kann man — in der Periode des Klassizismus — ihre
Entwicklung verfolgen. Kants scharfe Formulierung der Eigenart des
ästhetischen Wertes kam diesen Bestrebungen der Dichter zu Hilfe. Die
Romantik hat anfangs, wie andere Tendenzen der Kantischen Philosophie
und der klassischen Dichtung, so auch diese zu einem Extrem fortgeführt —
aber in ihr bildete sich dann auch eine Gegentendenz aus, eine neue Unter-
ordnung der Kunst unter das religiös gesehene Gesamtleben. Das 19. Jahr-
hundert erst zeigt immer wieder Streit und Kompromiß zwischen dem
Willen, die Kunst „rein“ zu wahren und zu pflegen, und dem Gegenwillen,
ihr aus dem Leben neues Blut zuzuführen und sie dem Leben dienstbar zu
machen. Sieht man genauer zu, so entdeckt man bald, daß es nicht nur zwei,
sondern eigentlich drei Parteien in diesen Kämpfen gibt: die Vorkämpfer
der reinen Kunst, die Lebensdurstigen, die auch die Kunst hineinziehen
wollen in den einen großen Strom des Lebens, die stolz Resignierenden
endlich, die jenes echte, blutvolle Leben, die wahre Heimstatt der Kunst,
in der Gegenwart vermissen und sich darum in ein künstlerisch-künst-
liches Sonderdasein zurückziehen. Dies war schon Baudelaires Haltung,
aus diesem Zwiespalt heraus verzichtete Hans v. Marees auf jene
Volkstümlichkeit, die ihm doch das Ideal künstlerischer Wirkung bedeutete.
Auch im Kreise Stefan Georges ist die gleiche Stimmung verbreitet.
So heißt es einmal in den Blättern für die Kunst: „Man beklagt sich
darüber, daß der Künstler sich nicht mehr auf die herrschenden Allgemein-
heiten stützt, und doch folgt er dabei nur einem Naturgesetze. Allgemein-
heiten bestehen heute nicht mehr kraft wesenhafter Normen und innerer
Nötigungen, sondern durch zufällige Übereinkünfte und wirtschaftliche
Bedürfnisse. Sie sind nicht mehr eingerichtet auf die stammhafte und
Erster-Hand-Leistung (originäre und primäre), auch nicht beim Künstler.“
Hier wird also die Autonomie der Kunst nicht allgemein, sondern aus unserer
Kulturlage heraus gefordert. Es ist bemerkenswert, daß diese Haltung
besonders bei Künstlern vorherrscht, während Kritiker und Theoretiker
leicht zu einer theoretisch, d. h. für alle Zeiten begründeten Autonomie-
Forderung kommen. Selten nur wird diese ganz allgemein und prinzipiell
ausgesprochen, weit häufiger zeigt sie sich in ihren Folgerungen. Unter
diesen sind zwei besonders kennzeichnend, die Ablehnung irgend einer
Dienstbarkeit der reinen Kunst und die formale Beurteilung des Kunstwertes.
Jede „Tendenzkunst“ erscheint verdächtig, die Kunst soll nicht zum Mittel
für außerästhetische Ziele — und seien es die höchsten und wichtigsten —
herabgewürdigt werden. Allen „Inhalt“ ferner nimmt die Kunst aus dem
 
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