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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Lasson, Adolf: Der Wertbegriff in der Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0159

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Lasson, Der Wertbegriff in der Ästhetik

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erkennen; sie erinnern sich an früher Gesehenes, an Verwandtes, Entgegen-
gesetztes; sie streben, ein Urteil zu gewinnen, sich zu überzeugen, die neu-
gewonnene Kenntnis zu befestigen, alte zu erneuern. Sie ziehen auch wohl
die Brauen hoch; sie nicken, sie schütteln das Haupt, zucken mit der
Schulter, falten die Hände oder breiten sie aus, einander zugekehrt oder von
einander abgewandt; lauter Gebärden, wie sie beim Untersuchen, Dis-
putieren, Erforschen gewöhnlich sind. Das also ist die wirkliche Erfahrung,
die wir von dem Benehmen der Maßgebenden dem Kunstwerk gegenüber
machen: die rechten Betrachter treiben Kritik und suchen den Wert des
Gegenstandes zu ergründen, nicht als einen bloß für sie, sondern für alle
gültigen. Zu diesem Behufe bestimmen sie die Eigenart des Werkes, seinen
Grundgedanken und seine Intention; sie halten dagegen seine Bestimmung
und Aufgabe und die aufgewandten Mittel, mit denen die Intention erreicht
oder auch verfehlt worden ist; sie erforschen den Stil, die gesamte Formen-
gebung und ihr Verhältnis zum Inhalt, das geistige Vermögen, das der
Künstler für sein Werk mitgebracht, die Sorgfalt, die er aufgebracht hat,
die Richtung und Schule, der er angehört, ebenso wie die zeitlichen,
gesellschaftlichen, geschichtlichen Bedingungen, die seine Persönlichkeit
und sein Schaffen gefördert oder gehemmt, günstig oder ungünstig beein-
flußt haben.
Wir haben von Werken der bildenden Kunst gesprochen: es ist mit
Erzeugnissen, die der Tonkunst oder der Dichtkunst angehören, nicht
anders. Der Musik und Poesie gegenüber tritt das Moment ausdrücklicher
Kennerschaft und eingeübten Verständnisses weniger scharf hervor; aber
tatsächlich läßt sich auch hier jeder ernsthafte Mensch und Kunstfreund
nicht durch den Enthusiasmus einer beliebig zusammengewürfelten Menge,
nicht durch ihr mehr oder minder entschiedenes, ablehnendes oder ver-
werfendes Verhalten, auch nicht durch einen kühlen Achtungserfolg bei
eben derselben leiten; er leiht sein Ohr den künstlerisch Hochgebildeten,
die einen Anspruch darauf haben, als die Einsichtigen und Wissenden zu
gelten. Denn jedem Kunstwerk wird sein Wert mit maßgebender Bedeutung
zuerkannt und abgesprochen von den Einsichtigen und Wissenden, und
diese Feststellung des Wertes eines Kunstwerks erfolgt auf Grund der
Kritik. Die Kritik gehört zur Kunstübung als ihre andere, sie ergänzende
Seite. Die Kritik aber, sofern sie wahrhaft ist, was ihr Name verheißt, sofern
sie also ihrem Begriffe entspricht, ist eine Tätigkeit von wissenschaftlicher
Art; sie beruht auf wissenschaftlich durchgebildeten Begriffen, sie strebt
begriffliche Klarheit an und sucht auf diesem Wege Wertbestimmungen zu
erreichen, die allgemeingültige Bedeutung haben.
Das Gerede über Kunstwerke und Kunstübung, wie es für ein weiteres
Publikum in Übung ist, mag also geistreich und sehr unterhaltend sein;
aber mit Kritik hat es nur eine ganz entfernte Verwandtschaft. Persönlich-
keiten, die zu ästhetischer Kritik berufen sind, sind selten, so selten wie die
rechten Kunsthistoriker. Man muß sich mit dem Mittelgut begnügen, wo
die Meister nicht zu haben sind. Aber schlimm genug, daß selbst das
 
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