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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Schmarsow, August: Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0256

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

wir zurück zur Gestaltung des Innenraumes und verfolgen etwa den christ-
lichen Kirchenbau in der Basilikenform. Niemand wird leugnen, daß im
Parallelismus der Säulenreihen sofort eine Stockung eintritt, sowie wir an
irgend einer Stelle die flache Stirn des Pfeilers hineinsetzen. Solcher
Stützenwechsel bringt ein ganz anderes rhythmisches Gesetz in den Verlauf
des Innenraumes: die Zusammenfassung zu Untereinheiten. Der Unter-
schied zwischen den stärkeren und schwächeren Stützen steigert sich, wo
sich zwischen beiden Reihen ein trennender Gurtbogen ausspannt. Solche
Mittel der Zusammenfassung bereiten auch die Umgestaltung des oberen
Abschlusses vor. Einen entscheidenden Schritt weiter führt das Kreuz-
gewölbe, denn die einander durchschneidenden Diagonalen weisen dem
emporschauenden Menschen den festen Platz in der Mitte an. Damit ist
wieder die eigene Vertikalachse des lebenden Innenraums drunten als
Dominante der rhythmisch gegliederten Hälften r und 1 eingesetzt, und die
Wirkung dieses Strophenbaues nimmt die Aufmerksamkeit in Anspruch.
Holen wir noch die Gliederung des Obergadens nach, so haben wir die
„rhythmische Travee" (v. G e y m ü 11 e r). Demgegenüber stellt die Gotik
mit dem quergelegten Rechteck das schnellere Tempo wieder her, obgleich
von dem Reichtum der rhythmischen Reihung der regelmäßigen Travee
nichts geopfert wird. Betonen wir daher nur noch, wie die Apperzeption
einer solchen vielgliederigen Einheit immer nur an der Stelle sich vollziehen
kann, wo die Vertikalachse des entlangwandelnden Subjekts sich mit der
Dominante solchen Coordinatensystems identifiziert. Gehen wir von diesem
vollendeten Beispiel der Innengliederung des Langhauses nun sogleich
weiter zu dem Anschluß der folgenden Raumteile, zum Ganzen des mittel-
alterlichen Kirchenbaues. Die halbrunde Apsis ist der letzte Überrest der
monumentalen Umschließung, aus dem das Gottesbild verschwand, mag dem
Ankommenden auch nur ein Symbol wie das Kreuz gezeigt werden. Nur
aus der Gegeneinanderführung der beiden Faktoren, des Raumes für
die Priesterschaft und des Langhauses für die Gemeinde, kann die
Entwicklung des Kirchenbaues verstanden werden. Nur so wird
die Vierung die bedeutsamste Stelle der Wechselwirkung. Und die
Ausbreitung der Kreuzarme gehört nun zum adäquaten Ausdruck auch
der gespanntesten geistigen Sammlung nach zurückgelegtem Wege durch
das Langhaus. Hier kommt auch der Übergang aus der Ortsbewegung von
allen Seiten und aus der Objektivierung tastbarer Werte in sichtbarer
Gliederung der plastischen Körper zur rein schauenden Bewegung der
Blicke zustande. Das ist auch die Geburtsstätte der nachfolgenden Be-
strebungen zur Vereinheitlichung eines Gesamtraumes an Stelle der viel-
teiligen Raumkomposition. Bei diesem Einblick in den Zusammenhang der
architektonischen Schöpfung mit der Tastregion des menschlichen Körpers
und seinem motorischen Apparat sind bereits die Grundlagen jeder weiteren
Ausführung ins Einzelne, wie über den Außenbau usw., vorgezeichnet. Sie
bieten nicht allein den Schlüssel zur vergangenen Entwicklung der Archi-
tektur, sondern auch zum lebendigen Schaffen der Gegenwart.
 
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