Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

DOI Heft:
Abteilung III
DOI Artikel:
Müller-Freienfels, Richard: Das Ich in der Lyrik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0349

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Müller-Freienfels, Das Ich in der Lyrik

343

Ich schließe mich hier im wesentlichen der Formulierung Österreichs
an, nur daß ich seine Scheu, den Körper als Träger des Ichgefühls anzu-
sehen, nicht teilen kann.
Ich unterscheide also erstens das Ichgefühl, das Substrat alles
unseres Erlebens, das an sich unbestimmt ist und sich immer gleich bleibt;
zweitens die Persönlichkeit oder die Ichvorstellung, die man auch
den Ichbegriff nennen könnte.
Um dieses Ich als Vorstellung oder als Begriff handelt
es sich bei unseren Untersuchungen. Dieses allein ist wandelbar, das Ich
als fühlendes Substrat ist immer das gleiche.
Die Persönlichkeit also ist ein Begriff, und zwar ein sehr wenig
abgegrenzter, sehr wenig konstanter, vielmehr ein ewig wechselnder. Die
Konstanz beruht eigentlich nur in der Beziehung auf einen bestimmten
Körper und in einer gewissen potentiellen Einheit der Gedächtnisinhalte. Im
übrigen wechselt die Persönlichkeit beständig. Sie wissen alle aus eigener
Erfahrung, daß man in bestimmten Situationen, in bestimmter Gesellschaft
ein ganz anderer Mensch ist. Ein Fürst ist nicht immer Fürst, ein Pro-
fessor nicht immer Professor, sondern wenn sie mit ihrem Kinde spielen,
sind sie nur Vater; wenn sie auf die Jagd gehen, sind sie nur Jäger,
vergessen vollkommen den Rest der Persönlichkeit. Ebenso ist es, wenn
wir bewußt eine Rolle spielen auf dem Maskenfest, auf der Bühne usw.
Hier vergessen wir auch den gewöhnlichen Vorstellungsinhalt der Seele.
Die Einheit der Persönlichkeit nun beruht nur darin, daß eben jederzeit das
Ichgefühl, das Körperbewußtsein das gleiche bleibt und daß jederzeit
der gewöhnliche Persönlichkeitsbegriff wiedergewonnen werden kann.
Dies ist auch der Unterschied solcher Zustände, in denen wir unsere gewöhn-
liche Persönlichkeit vergessen, von den pathologischen (bei Geisteskranken,
die sich als Gott, als Kaiser usw. fühlen), daß hier gleichsam der Rückweg
ins gewöhnliche Durchschnittsdasein nicht gefunden werden kann, weil die
Verbindung durchschnitten ist.
Halten wir also die Tatsache fest, daß sich unser Ich als fühlendes,
erlebendes Substrat mit allen möglichen Persönlichkeitsvorstellungen über-
ziehen kann, wie ein Mannequin mit Kleidern. Was wir unsere Persön-
lichkeit nennen, ist sozusagen nur der Alltagsrock des Ich, derjenige, den
wir meistens tragen. Im übrigen sind so unendlich viele Modifikationen
möglich, daß wir kaum je sagen können, wir sind ganz wir selbst, es ist
nichts Fremdes in uns. Jeder andere Mensch, mit dem wir in Beziehung
treten, jede neue Lebenslage nötigt uns bereits zu gewissen veränderten
Stellungnahmen, und so ist der Übergang zu solchen Zuständen, wo wir
nicht mehr ganz wir selbst sind, zu solchen, wo wir uns ganz verwandelt
fühlen, schwer festzulegen.
Ich bitte Sie dabei, die Worte Maske, Rolle usw. nicht in tadelndem
Sinn zu fassen, wie wir das im Leben oft tun, um ein Affektieren, etwas
Gewolltes und Gemachtes zu bezeichnen. — Wir spielen eigentlich immer
eine Rolle, die nie ganz unser Ich umfaßt und in tausend Möglichkeiten
variiert zu fremden Rollen hinüber. Wir spielen eine andere Rolle, tragen
 
Annotationen