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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Herrmann, Helene: Die Erscheinung der Zeit im lyrischen Gedicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0361

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Herrmann, Die Erscheinung- der Zeit im lyrischen Gedicht

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diesen Zustand so gestaltet und gegen das Leben abgeschlossen hat. Aber
eben nur in der Formung selbst ist sie fühlbar. Das Gedicht ist
kein Bekenntnis mehr, aber ebenso wenig wie eine lyrische Bekenntnis-
poesie haben wir hier das, was der gefühlsmäßig ähnlich gerichtete Auf-
schrei im Monolog einer dramatischen Gestalt gäbe: einen Zustand, durch
den hindurch ein Wesen zu anderen Zuständen wüchse. Denn nicht ein
Wesen ist hier die Lebenseinheit, um dessentwillen uns dieser Zustand
ergriffe als eine Auswirkung seiner inneren Gerichtetheit, sondern der
Zustand selbst ist die Lebenseinheit. Innere Bewegtheit an sich
ist hier, die nur auf sich beruht, die ihren Schwerpunkt ganz in sich hat.
Doch hat sie nicht geringere Fatalität als etwa ein Leidenschaftsdrama, wo
das Grundgefühl sich in Charakteren und Schicksalen auswirkt. Diese
Schicksalshaftigkeit ist es, durch die das hier gestaltete Gefühl wirkt als
die einmalige Form des Traurigseins, die gerade dieser hier als Form
gegenwärtige Geist erfahren hat, und doch zugleich als ein letztmöglicher
Aspekt des Lebens überhaupt, als eine letzte Art, wie Seele das Sein
als Innenzustand in sich halten kann. Traurigsein an sich ist hier
Rhythmus und Sprache geworden, und das gibt diesem kleinsten
dichterischen Organismus ein gleiches Schwergewicht wie jedem anderen
Kunstwerk, das mit viel weitschichtigerem Material des Lebens schalten
kann.
Es sind nun Gedichte dieser Art, aus denen ich meine Definition
ableite: Das lyrische Gedicht ist ein dichterisches
Gebilde, in dem ein Zustand seelischen Seins als
g e g e n s t ä n d 1 i c h e r O r g a n i s m u s in Sprache und Rhyth-
mus erscheint. (Durch die vorhergehende Erörterung ist hoffentlich
klar geworden, wie weit die Worte gegenständlich und Zustand hier
gefaßt sind.)
Diese Definition müßte als dogmatisch eng gelten, sähe ich nicht selbst
ihren Wert im Heuristischen. Es gilt einmal an zweifellosen Fällen
das Wesen einer bestimmten dichterischen Gesetzlichkeit, einer Formungs-
weise zu erkennen: das Prinzip der lyrischen Gestaltung.
Der zweite Teil der Aufgabe wäre dann, die ganze Beweglichkeit und Bieg-
samkeit des Prinzips nachzuweisen an den Fällen, wo es nicht so rein
ausgeprägt, sondern modifiziert erscheint. Damit erst wäre dann das
ganze Bereich des Lyrischen abgesteckt. Genügten wir heute schon dem
ganzen Umfang unserer Aufgabe, so hieße unser Thema nicht so eng: „die
Erscheinung der Zeit im lyrischen Gedicht“, sondern vielmehr „die Er-
scheinung der Zeit innerhalb des lyrischen Schaffens“. Wir bleiben heute,
durch die Knappheit der Zeit gezwungen, beim ersten Teil der Aufgabe,
bei den ganz zweifellosen Fällen, verlieren dabei aber den zweiten Teil
nicht aus dem Sinn. Kehren wir nun zu unserem Beispiel zurück und
suchen wir an seiner Gestaltung nicht mehr eine Sachdefinition
zu gewinnen, sondern das lyrische Gestaltungsprinzip, wie wir
es hier in Tätigkeit sehen, in seinem Wesen zu fassen, das Lyrische als
eine ästhetische Kategorie zu erkennen. Welches Gestaltungsprinzip zeigt

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