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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Walzel, Oskar: Tragische Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0395

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Walzel, Tragische Form, Diskussion

389

schnellen Anwachsens und einer Dramatik langsamer Spannung feststellt,
dient er der Ergründung architektonischer Form der Tragödie. Ganz
besonders aber stieß Ludwig, als er Shakespeare und Schiller vergleichend
zusammenhielt, auf Formgegensätze beider, die er in der antithetischen
Formel der lyrischen und der dramatischen Steigerung zusammenfaßte.
Auch neueste Kritik (Bab) arbeitet in ihrer Weise mit diesen architektonisch-
formalen Gesichtspunkten.
Diskussion:
Herr Schumann: Ich glaube nicht, daß auf dem Wege des Herrn
Vortragenden, d. h. durch impressionistische Wiedergabe möglicher dichterischer
Gestaltungsweisen ohne begriffliche Klärung, wissenschaftliche Ergebnisse über die
Probleme des Tragischen erarbeitet werden können.
Ist es auch an sich zu begrüßen, wenn eine Definition des Begriffes tragisch
vermieden wird, so erscheint es doch eben darum um so schwieriger, sich über
„tragische Formen“ auszusprechen.
Wenn ich recht verstehe, will der Herr Vortragende mit dem Begriff eine
allgemeine Lebenserscheinung bezeichnen, welche sich dichterisch am reinsten und
überzeugendsten in Werken einer bestimmten äußeren Anlage dartut. Zu dieser
äußeren Anlage gehören folgende Merkmale:
Ί. Es fehlt eine direkt vom Dichter an den Hörer gerichtete Äußerung.
2. Der Aufnehmende wird allein mit den Gestalten der Dichtung befaßt; deren
Charakteristik erfolgt nicht durch Beschreibung, sondern durch Handlungen, die
sich anschaulich vor dem inneren Auge des Aufnehmenden vollziehen, und durch
Worte, die sie sprechen.
Diese Merkmale, welche so etwa den schwankenden Ausdruck „dramatische
Form“ erläutern, sollen nun eine Art besonderer Potenz zum Ausdruck des
Tragischen begründen. Nähere Gründe hierfür waren aber, wenn ich recht sehe,
in den Ausführungen des Herrn Vortragenden nicht enthalten. Man könnte
höchstens sagen, vielleicht, weil die durch unsere Merkmale ausgeschlossenen
Faktoren (Witterung, Lokal, Stimmenlage, Äußerungen des Verfassers) nicht
wesentlich zur Herbeiführung des Tragischen sind, also weil das Tragische rein im
Menschlichen und seinen Äußerungen und Handlungen liegt. Ersichtlich bewegt
man sich aber damit im Zirkel. In letzterem Satz hätte man statt tragisch sagen
können: dramatisch. Es ist jedoch nach meiner wie nach allgemeiner Auffassung
Tragisches auch jenseits des Dramatischen möglich.
Es ist also deswegen kein Grund für die Bindung des Tragischen an das
Dramatische angeführt worden, weil es einen solchen nicht gibt, sondern die
Tragik in der Tat ebenso durch Prosa, Epos und selbst durch lyrische Gedichte
sich offenbaren kann, wie durch das Drama.
Ich komme zu dem Schluß, daß zwischen der dramatischen Form und der
Tragik eines dichterisch gestalteten Vorganges keine kausalen Beziehungen
bestehen. Man kann höchstens sagen: der Roman erzielt tausend Wirkungen der
verschiedensten Qualität, von denen vielleicht nur eine die des Tragischen ist.
Das Drama verengert den Bereich der Wirkungen, und vielleicht ist es darum das
Richtige, an ihm das Wesen dieser Wirkungen klar zu machen. Es mag also
vielleicht eine relative Verwandtschaft gewisser Inhalte mit gewissen Gestaltungs-
 
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